zahl der Woche
: Überholen, ohne einzuholen

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Ein altes DDR-Sprichwort geht so: Glaube keiner Statistik, die du nicht selbst gefälscht hast. Das ist natürlich heute alles anders. Die Chemieverbände Nordost haben jetzt eine Statistik über ihre Umsatzerwartungen vorgelegt. Und die sind prächtig: Während die gesamtdeutschen Chemiker in den ersten fünf Monaten des Jahres nur 0,3 Prozent mehr Umsatz machten, legten die Ostdeutschen um fast 6 Prozent zu. Als „Erfolgsstory des Aufbau Ost“ bezeichnet solcherlei Entwicklung Ralf Siegert, Hauptgeschäftsführer des Verbandes. Und sagt: Wenn das so weitergeht, wird die ostdeutsche Chemieindustrie spätestens 2006 eine Größenordnungen erreichen, die sie in der DDR zur Wendezeit hatte.

Ein interessanter Vergleich. Fragt sich: Welcher Umtauschkurs liegt dem zugrunde? Der Zwangsumtausch (25 Ostmark 1:1 pro Tag und Kopf)? Der Schwarzmarktkurs (10:1)? Oder den offizielle Währungsunionskurs (2:1)? Zum Beispiel das Petrolchemische Kombinat Schwedt: Das hier produzierte Futtereiweiß für die Tierproduktion kostete je Tonne bis zu 15.000 Mark der DDR. Auf dem Weltmarkt musste man dafür aber nur etwa 600 DM zahlen. Macht einen Umtauschkurs von 25:1. Zum Beispiel das Chemiekombinat Bitterfeld: Im letzten sozialistischen Geschäftsjahr produzierten die volkseigenen Kollektive eine Warenwertschöpfung von 4,5 Milliarden DDR-Mark. Anders als heute gingen in diese Form der Umsatzberechnung aber die notwendigen Zwischenprodukte nicht ein. Die Berechnung der Indikatoren wie Produktivität, Pro-Kopf-Bruttoinlandsprodukt, Umsatz gehorchte einer anderen Systematik – eben einer realsozialistischen. Deshalb herrschte zur Wende auch ein großes Durcheinander, als die Ostdeutschen herauszufinden versuichten, wie es um ihre Wirtschaft tatsächlich bestellt war.

Vielleicht haben die Chemieverbände Nordost jetzt den Wirrwarr enträtselt. Glaubt man den Verbandsangaben, muss die DDR-Chemie etwas über 10 Milliarden Euro umgesetzt haben. 6 Prozent Wachstum in diesem und dann noch einmal 6 im nächsten Jahr – DDR-Niveau könnte 2006 erreicht werden. Fragt sich, ob das tatsächlich eine solche Erfolgsgeschichte ist. In jedem Fall gelingt den Chemikern diesmal, was ihnen damals verwehrt blieb: überholen, ohne einzuholen. Während 1989 nämlich 180.000 Menschen den Chemieumsatz erwirtschafteten, werden 2006 dafür nur noch etwa 35.000 Menschen gebraucht.

NICK REIMER