„Das Vorbild heißt ADAC“

Interview THILO KNOTT

taz: Herr Straubhaar, wie wird eine Gewerkschaft wie die IG Metall in zehn Jahren aussehen?

Thomas Straubhaar: Hoffentlich anders und weit weg vom momentanen Zustand.

Das heißt?

In zehn Jahren wird eine Gewerkschaft nicht mehr als Schiedsrichter und Spieler gleichzeitig und gleichermaßen gefordert sein. Sie wird sich auf ihre Schiedsrichterrolle zurückziehen müssen.

Was heißt denn Schiedsrichter, was Spieler?

Einerseits ist sie Spielerin bei Lohnverhandlungen und bestimmt das Ergebnis mit, das zwei große Kartelle, die Gewerkschaften und die Arbeitgeberverbände, aushandeln. Und sie ist Schiedsrichter, weil sie über alle arbeitsrechtlichen Marktentwicklungen wacht oder auch, wie beim Bündnis für Arbeit, an Tischen der Politik sitzt.

Die IG Metall soll die Rolle als Verhandlungsführerin bei der Lohnfindung aufgeben?

Das sehe ich so kommen. In zehn Jahren ist auch der letzte Flächentarifvertrag obsolet und wird nicht mehr existieren. Dann wird viel stärker als heute dezentral in Bündnissen für Arbeit auf der Ebene des einzelnen Betriebs ausgehandelt, was an Ort und Stelle der richtige Lohn für die Belegschaft ist. Die Gewerkschaften werden dann nur noch eine Schiedsrichterrolle ausüben, indem sie darüber wachen, ob die Spielregeln dieser betrieblichen Bündnisse eingehalten werden. Die Gewerkschaft wäre dann nur noch eine Art Schiedsgericht.

Das ist Zukunftmusik. Was läuft gegenwärtig falsch bei den Gewerkschaften?

Überall auf der Welt gibt es weitgehenden Wettbewerb auf den Gütermärkten. In allen Bereichen des Gütermarktes sind Kartelle verboten und nur mit Ausnahmen erlaubt. Bei den großen Netzen, ob Energie, Verkehr, Bahn, Telekommunikation oder Wasser, beginnen die staatlichen Monopole zu fallen. Nur auf dem Arbeitsmarkt haben wir noch wie vor 100 Jahren ein Spiel von zwei großen Kartellen, den Gewerkschaften und den Arbeitgeberverbänden. Und diese beiden Kartelle schließen dann sogar wiederum ein noch größeres Kartell, das dann mit der Etikette „Tarifautonomie“ etwas schöner bezeichnet wird.

Sie haben von zwei Kartellen gesprochen, schließt Ihre Kritik also auch die Arbeitgeberverbände mit ein?

Absolut. Das wird ja immer vergessen. Es ist eine paradoxe Haltung, dass die Arbeitgeberverbände einseitig das Tarifkartell nur als Problem der Gewerkschaften verstanden haben wollen. Denn zu jedem Vertrag gehören zwei Parteien, die unterschreiben. Da kann ich mich doch nicht hinstellen und sagen, die andere Seite hat mich über den Tisch gezogen. Das ist doch scheinheilig.

Dennoch steht immer nur die Gewerkschaft im Mittelpunkt der öffentlichen Kritik. Haben Sie eine Erklärung?

Das hängt generell mit der Frage zusammen: Wie geht es mit dem Sozialstaatsprinzip in Deutschland weiter? Wegen der konjunkturellen Stagnation haben momentan die Arbeitgeber mehr Rückenwind. In schwierigen Zeiten gewinnt die Freiheit des Einzelnen an Bedeutung, da rückt die Produktion in den Vordergrund und nicht die Umverteilung. Und da wirken dann die Versuche der Gewerkschaften, am Sozialstaat stärker festzuhalten und diese Entwicklung bremsen zu wollen, eben rasch wie eine Blockade.

Haben die Gewerkschaften nur Pech, dass sich die Konjunktur in Deutschland gerade in einer Talsohle befindet?

Die Diskussion um den Sozialstaat greift ja ein strukturelles Problem auf, dem man sich schon früher hätte stellen müssen. Nur ist es in einer konjunkturell schwierigeren Zeit leichter, diese Diskussion um den Sozialstaat aufs Trapez zu bringen als in einer Phase des Wachstums, in der es leichter ist umzuverteilen. Umverteilung heißt in Zeiten der Stagnation eben, jemandem etwas wegzunehmen. Deshalb ist dieses Rückzugsgefecht für die Gewerkschaft besonders hart zu führen. Früher oder später wäre das aber ohnehin gekommen.

Ist die Aufgabe der Blockade gegen Reformen von Rot-Grün, wie Sie es nennen, notwendig für die IG Metall, um wieder politikfähig zu werden?

Ich glaube, die Gewerkschaften werden sich im Herbst den Beschlüssen der Agenda 2010 auch nicht widersetzen. Alleine schon um sagen zu können, auch wir, die Gewerkschaften, haben unseren Beitrag geleistet. Es gibt kluge Gewerkschaftsführer, die erkannt haben, dass es auch bei den Gewerkschaften tiefgehende Änderungen geben muss. Das sind die Konsequenzen des großen sektoralen Strukturwandels, in dem wir uns nach wie vor und beschleunigt befinden, und der demografischen Herausforderungen. Beides zusammen heißt eben, dass es traditionelle Gewerkschaftspositionen fundamental zu überdenken gilt. Stichwort: längere Lebensarbeitszeit. Da wird in Teilen der IG Metall schon erkannt, dass man sich bewegen muss, um politikfähig zu bleiben.

In diesem Jahr laufen die Mitglieder der IG Metall davon wie nie zuvor. Wie muss sich die Gewerkschaft verändern, dass sie wieder Interessensvertreterin einer möglichst großen Koalition von Arbeitnehmern wird?

Diese Absetzungsbewegung ist nicht mehr reversibel. Bei allen anderen Institutionen des alten Industriezeitalters – von den Parteien bis zu den Kirchen – laufen die Mitglieder scharenweise davon. Das hat mehrere Ursachen: Der ökonomische Übergang vom Industrie- zum Dienstleistungszeitalter wird gesellschaftlich begleitet von Individualisierungsprozessen und politisch durch die Internationalisierung von Entscheidungen. Das ist nicht mehr umkehrbar. Die Gewerkschaften werden sich damit abfinden müssen, zahlenmäßig nur noch einen sehr kleinen Teil der Arbeitnehmerschaft in Deutschland zu vertreten. Und deshalb müssen sie sich radikal und schnell hin zu Dienstleistungsorganisationen wandeln.

Wie könnten moderne Dienstleistungen aussehen, die die IG Metall anbieten könnte?

Eine Komponente wäre, sich zu einer, ich nenne das mal Stiftung Warentest der Arbeitswelt zu entwickeln. Wenn eine zentrale Funktion der Gewerkschaften die des Schiedsrichters sein wird, dann könnte sie auch Gütesiegel ausstellen für einzelne Betriebe.

Die IG Metall verteilt dann nicht blaue, sondern rote Engel?

Ja. Sie könnte über das Betriebsklima informieren und Firmen nach spezifischen Kriterien in einer Rangliste bewerten. Ausgezeichnet werden Arbeitgeber, die sich an einmal vereinbarte Spielregeln bei der Lohnfindung halten, die arbeitnehmerfreundliche betriebliche Regeln haben: beispielsweise für qualitativ gute Aus- und Weiterbildung, Teilzeitarbeit für ältere Arbeitskräfte oder Teilzeitarbeit für allein erziehende Elternteile. Und im Gegenzug müsste die Gewerkschaft schwarze Schafe benennen, die sich nicht arbeitnehmerfreundlich verhalten.

Was sind andere Bereiche?

Der ganze Bereich Weiterbildung ließe sich hervorragend verkaufen. Im Weiteren ließe sich ein Rechtsschutzdienst für Fälle arbeitsrechtlicher Streitigkeiten anbieten. Da könnte man glatt beim ADAC schauen, was die so alles für ihre Mitglieder machen – und das wird auch für die Gewerkschaften eine Stoßrichtung sein.