Der Control Freak hat die Kontrolle verloren

Der Untersuchungsausschuss von Lord Hutton legt in bisher einzigartiger Weise die Entscheidungsfindung und Kommunikation in der britischen Regierung offen

DUBLIN taz ■ David Kellys Tod hat alles verändert. Zum ersten Mal seit seinem Amtsantritt als Premierminister 1997 bestimmt Tony Blair nicht mehr die politische Tagesordnung. Am 18. Juli war der britische Premierminister nach seinem triumphalen Auftritt vor dem Kongress in Washington ins Flugzeug gestiegen, zufrieden mit sich und der Welt. Als die Maschine Stunden später in Tokio landete, schien Blair um Jahre gealtert. Der Tod des Wissenschaftlers in den Diensten des Verteidigungsministeriums, der die Quelle für den BBC-Bericht war, wonach die Regierung ein Dossier aufgebauscht habe mit der Behauptung, Irak könne innerhalb 45 Minuten Massenvernichtungswaffen aktivieren, hatte die Situation schlagartig verändert. Kelly konnte nun weder zum Sündenbock noch zum Kronzeugen gegen die BBC gemacht werden.

Vier Tage später, auf dem Flug von Schanghai nach Hongkong, antwortete Blair auf die Frage, ob er die Bloßstellung Kellys autorisiert habe: „Ganz bestimmt nicht. Ich habe die Veröffentlichung von Kellys Namen nicht autorisiert.“ Er hat es doch getan, so viel hat die Untersuchung unter Lordrichter Brian Hutton bisher bereits ergeben – und gestern hat es Blair auch zugegeben.

Seit dem Tod des Wissenschaftlers geht es um Schuldzuweisung. Blairs Berater und Pressesprecher, die bisher vor dem Ausschuss ausgesagt haben, zeigten mit dem Finger auf das Verteidigungsministerium, das alle Entscheidungen getroffen habe. Doch vorgestern weigerte sich Verteidigungsminister Geoff Hoon, die ihm zugedachte Rolle des Sündenbocks zu spielen. Er sagte stattdessen aus, dass die Entscheidung, Kellys Namen durchsickern zu lassen, direkt von Blair getroffen wurde.

Abgesehen davon, dass Hoon eine lächerliche Figur machte, als er ein ums andere Mal behauptete, er selbst habe gar nicht mitbekommen, was in seinem eigenen Ministerium vor sich ging, so halten die meisten britischen Zeitungen seine Angaben über Blairs enge Anteilnahme an der Kelly-Affäre für glaubwürdig. Schließlich war Blair seit seinem Amtsantritt als Labour-Chef 1994 ein „control freak“: Er musste stets die Fäden in der Hand halten.

Hoons Aussage gab auch einen erstaunlichen Einblick in die Arbeitsweise des Kabinetts. Er behauptete, dass er und andere Kabinettsmitglieder während des gesamten Konflikts um den Irak marginalisiert waren. Die Entscheidungen wurde ausschließlich von Blair und seinen Beratern getroffen – also auch die Entscheidung, das Regierungsdossier über die vom Irak ausgehende Gefahr aufzupeppen, um die Bevölkerung auf Krieg einzustimmen?

Dass es aufgebauscht wurde, daran besteht für die Medien und laut Meinungsumfragen auch für die Öffentlichkeit kaum ein Zweifel. Lordrichter Hutton hat 900 Dokumente ins Internet gestellt, das ist ein beispielloser Vorgang. Normalerweise muss man 30 Jahre darauf warten, die Regierenden können dann nicht mehr zur Rechenschaft gezogen werden. So besteht nun die einmalige Gelegenheit, anhand der E-Mails zwischen den verschiedenen Regierungsabteilungen einen Entscheidungsprozess nachzuverfolgen, der zum Irakdossier und letztendlich zum Krieg führte. Aus Blairs Amtssitz in der Downing Street kamen die Korrekturen des Dossiers. Hieß es zunächst, der Irak „bemühte sich um Uran“, lautete die veröffentlichte Version: Der Irak „sicherte sich Uran“. Und war er zunächst „möglicherweise in der Lage“, seine Massenvernichtungswaffen kurzfristig zu aktivieren, so war das in der Endfassung zum Faktum geworden.

Doch Huttons Aufgabe ist es lediglich, die Umstände, die zu Kellys Tod führten, zu untersuchen. Deshalb ist die zentrale Frage, wer für die Bloßstellung Kellys und den Druck auf ihn verantwortlich ist. Falls er sich für Hoon entscheidet, wären dessen Tage gezählt, und Blair hätte seinen Sündenbock. Doch für die britischen Medien steht bereits jetzt fest, dass Blair das alles hätte verhindern können. Er hätte den Streit mit der BBC um ein aufgebauschtes Dokument, den sein Chefsprecher Alastair Campbell vom Zaun gebrochen hatte, beilegen können, bevor er eskalierte.

Ein politisches Opfer hat die Kelly-Affäre bereits gefordert: den Euro. George Foulkes, ein früherer Minister und treuer Blair-Anhänger, sagte, er habe alle Hoffnung auf eine Kampagne für den Euro aufgegeben. „Sie ist durch bestimmte Dinge vom Kurs abgebracht worden. Wir müssen die Realität akzeptieren.“ Ursprünglich sollte die Kampagne für ein Referendum im Juni beginnen, nachdem der euroskeptische Schatzkanzler Gordon Brown die Tür dafür offen gelassen hatte. Doch dann begann die Affäre um das Irakdossier und den Tod von Dr. Kelly.

RALF SOTSCHECK