Die Schule – ein Apartheidsystem

taz-Sommerschule (4): Der Staat fördert Ungleichheit – am extremsten in Sonderschulen für „Lernbehinderte“

Seit Pisa wissen die Deutschen: Es ist ein Fehler, wenn Kinder von der Einschulung zurückgestellt werden oder die Klasse wiederholen müssen. Zumindest ein Teil der Öffentlichkeit nimmt das heute als das wahr, was es ist – ein Demütigen und Beschädigen der Kinder. Erstaunlicherweise findet jedoch der dauerhafte Ausschluss von Kindern mit Lernproblemen aus der Regelschule weniger Beachtung. Der Ruf der Sonderschulen hat nach Pisa kaum gelitten. Mit dem klangvollen Begriff der „sonderpädagogischen Förderung“ lässt sich offensichtlich immer noch die Tatsache verdecken, dass der Zwangsbesuch der Sonderschule die härteste und folgenreichste Selektionsmaßnahme ist, die unser Schulsystem verhängt. Andere Länder setzen hingegen längst auf individuelle Förderung – und die Integration behinderter Schüler in eine Schule für alle.

Das Stigma der „Lernbehinderung“ und der Abschiebung in die Sonderschule trifft am häufigsten Kinder aus gesellschaftlich randständigen Familien. Ihre Lern- und Verhaltensprobleme, das ist unstrittig, sind Folgen materieller und kultureller Armut. Diese „neue“ Armut lässt nur eine Schulform wirklich boomen – die Sonderschule für Lernbehinderte. Bei Migranten ist das Risiko, dorthin abgeschoben zu werden, doppelt so groß wie bei Deutschen. Deren Sprachschwierigkeiten werden zu Lernbehinderungen umgedeutet.

Trotz kleiner Klassen und trotz des Verzichts auf Leistungsdruck will sich Erfolg an Sonderschulen nicht einstellen. Sonderschüler können ihr Leistungspotenzial nicht ausschöpfen. Im Schulghetto lernt sich’s schlecht. Im Gegenteil, das anregungsärmste Lernmilieu, das unser Schulsystem zu bieten hat, behindert Schüler in ihrem Lernen. Die Sonderschule produziert so erst jene Lernbehinderte, denen sie angeblich helfen will.

Die Statistik legt die kümmerliche Bilanz der Sonderschule offen: Der Anteil der Schüler, die dort ohne Hauptschulabschluss abgehen, liegt bei 80 Prozent. Die Zahl der Rücküberweisungen in die Regelschule ist so erbärmlich niedrig, dass etwa NRW darüber nicht einmal mehr eine amtliche Statistik liefert.

Die Fans der Sonderschule führen gern ins Feld, dass leistungsschwache Schüler, befreit vom negativen Konkurrenzdruck durch stärkere Mitschüler, ihr Selbstvertrauen wiedergewönnen: die Sonderschule als hilfreicher Schonraum. Diese Begründung ist von jeher eine faule Ausrede, sie dient allein der Bestandssicherung der Sonderschule, nicht dem Wohl der Kinder. Ein Scheinargument, das die inhumanen und undemokratischen Merkmale des selektiven Schulsystems stabilisiert.

Die erzwungene soziale Trennung der Schülerschaft in ein pädagogisches Apartheidsystem macht aus den sozialen Nachteilen von Schülern eine strukturelle Diskriminierung. Die gesellschaftlichen Folgekosten dieser staatlich geförderten Ungleichheit sind unübersehbar. Die Jugendlichen in Sonderbehandlung haben keine gesellschaftliche Integrationschance über den regulären Ausbildungs- und Arbeitsmarkt. Der technologische Trend raubt ihnen die letzten Chancen, weil die beruflichen Qualifikationsanforderungen steigen und einfache Tätigkeiten für Ungelernte stetig abnehmen. Das frühe Elend der – so der Fachjargon – unversorgten Jugendlichen wird durch eine ebenso teure wie unwirksame Nachsorge nur mühsam kaschiert. Tatsächlich arbeiten wir kräftig an der Entstehung eines Subproletariats. In vielen Ballungszentren, wo die Polarisierung ungleicher Lebens- und Lernverhältnisse besonders stark ist, ist diese explosive Dimension bereits ansatzweise erlebbar.

Brauchen wir erst Gewalt, damit Politik und Gesellschaft verstehen, dass die eingesetzte Elitedebatte kein Luxus, sondern dummer Zynismus ist? Wollen wir wirklich der Menschenrechtsverletzung durch die Schule Einhalt gebieten, sollten wir uns zur „Schule für alle“ durchringen. BRIGITTE SCHUMANN

Die Autorin war Bildungssprecherin der Grünen in NRW. In der taz-Sommerschule gehen AutorInnen der Frage nach, „wohin die Bildungsreformen in Kitas, Schulen und Hochschulen führen“. Manuskripte an cif@taz.de