Rheinische Narrenknappen

Jürgen Flimm ist ein gefragter Mann: Mit seiner letzten „Ring des Nibelungen“-Runde in Bayreuth und bei den Salzburger Festspielen ist der Theatermacher wieder allgegenwärtig. Warum eigentlich?

VON FRIEDER REININGHAUS

Nimmt man die großen Festspiele als Maß, dann erscheint Jürgen Flimm als der bedeutendste deutsche Theatermacher der Gegenwart: Er stemmte den „Jahrtausend-Ring“ auf dem Wagner-Hügel von Bayreuth, eröffnete die Salzburger Festspiele 2004 und übernahm – in Nachfolge von Gérard Mortier – die Leitung der RuhrTriennale.

Seit vielen Jahren schon wird Flimm, Jahrgang 1941, immer wieder als Kandidat für wichtige und wichtigste Theaterfunktionen in Erwägung gezogen. Der gelernte Germanist und Kölner, der sich 1968 ein moderat rebellisches Outfit zulegte, stieg 1979 zum Leiter des Kölner Schauspiels auf. Von 1985 an verwandelte er das Thalia-Theater in Hamburg durch wohl abgewogene Spielplanpolitik in ein Musterinstitut mit optimalen Besucherquoten, wurde dann Schauspielchef in Salzburg. Dort liegt er, da Peter Ruzicka über 2006 hinaus nicht mehr zu Verfügung stehen will, bereits als Kompromisskandidat für die künstlerische Gesamtleitung des Festivals wieder gut im Rennen.

Zum Auftakt der Salzburger Festspiele in der vergangene Woche mühte sich Flimm mit „King Arthur“ von John Dreyden und Henry Purcell um eine „Semi-Opera“ von 1691: Er kehrte das Inkonsistente der Spielvorlage mit komödiantischer Lust hervor. Geflügelte Geister und ein Zauberer auf Surfbrett schwebten auf die blaue Spielfläche hernieder, die rings um einen Orchesterkrater mit grellbunter Lineatur überzogen wurde; Abrakadabra und andere Graffiti wurde mit Kreide auf einen Gebäudetorso im Hintergrund geschrieben, ein heiterer Wolkenhimmel deckelte das weite Fantasia-Land.

Klaus Kretschmar bestückte die Bühne mit mannigfach computeranimierten Bildern. Ständig war was los: Heftiger Vogelflugverkehr animierte das heidnische Opfer der vom christlichen Britenkönig besiegten Sachsen, Flamingos nickten im Chor, ein Pegasus und sogar ein Kampfjet flogen virtuell durch die Kulissenbogen. Schließlich meldet sich sogar etwas erotische Lineatur, und klatschendes Publikum als Statisten der Weltgeschichte sekundiert dem König, der von Michael Maertens nicht eben als Draufgänger oder Raufbold gezeigt wurde, sondern – in klarer antimonarchistischer Grundhaltung – als feiner Pinkel.

Fürs Schneetreiben in der berühmten Frostszene ließ Jürgen Flimm eine große Konfettikanone bedienen und eine Batterie Pinguine aufmarschieren, den Musikern und dem Dirigenten Nikolaus Harnoncourt dicke Wollmützen überstülpen, um die clowneske Stimmung noch zu steigern. Stolperei soll immer wieder die Szene beleben, übertriebener Körperkontakt die Konfusion auflockern, ein reichhaltiges Arsenal bewährter Winkelemente die zunehmend trister anmutenden Irrungen und Wirrungen aufmuntern. Da darf am Ende die Chorusline nicht fehlen, deren hoch gehaltene Täfelchen sich zum „Jetzt alle“ fügen. Von vorn bis hinten riecht das Entertainment, das Flimm bereitstellen lässt, nach den 70er- und 80er-Jahren. Das war nicht zufällig die Zeit, in der das Gros des Publikums der Salzburger Festspiele noch frisch und munter war. Und das erklärt die hohe Akzeptanz.

Flimm bleibt Flimm, und das ist guter Willen. Auch in Bayreuth, wo der von ihm zum Millennium inszenierte „Ring des Nibelungen“ am Wochenende nun zum fünften und letzten Mal vorgeführt wurde. Unverdrossen erscheinen Flimms Götter dort als kontemporäre Mittelständler – und so als Leute, die gesellschaftlich nicht oben sind; aber auch keine vulkanischen, diabolischen Antipoden. So zielten „Rheingold“ wie „Walküre“ mit Herzenslust am Kern der Stücke vorbei. Macht nichts, es war nicht böse gemeint, sondern halt nur flimmflach gemacht. Des Kanzlers Theaterberater hat mit seinem Fehlgriff wohl zur weiteren „Entspannung“ einiger historischer Wagner-Reizungen beigetragen: zu jener „Normalität“, die Sozialdemokraten sehr am Herzen liegt, weil Mittelmaß in ihr nicht auffällt.

Im Kontrast zu Schlingensiefs multimedialer Aufladung und Überbilderung des „Parsifal“ gewann der von Flimm arrangierte „Ring“ allerdings an Sympathien. Erich Wonders blitzblanke Schöner-Wohnen-Architektur und die reich bestückten, vielfach aufeinander Bezug nehmenden Bilder sind von erlesener Schönheit, gerade auch die Ausblicke auf weite Landschaften. Doch unterliegt die Ausstattung fortdauernd dem Grunddilemma, dass die Produktion zwischen postmodernem Ambiente und Militärutensilien aus den verschiedensten Geschichtszonen changiert, altgermanischer Plunder inklusive.

Indem Wonder und Flimm bei anbrechender „Götterdämmerung“ den Regierungssitz der niederrheinischen Gibichungen in der Architektur eines neuen Terminals des Flughafens Köln/Bonn zeigten, schlossen sie noch einmal zur Gegenwart auf. Nicht zufällig erinnerte Yvonne Wiedstruck als Heldengattin Gutrune an die Politikergattin Doris Schröder-Köpf. Akzeptiert man, dass das „Ring“-Finale dergestalt geschröderköpft wird, dann erscheint die schauspielerisch so genau gezeigte Intrige, die vom Niederrheinischen Hof angezettelt wird, durchaus plausibel und vielleicht sogar etwas brisant.

Doch solche aktuellen Seitenhiebe bleiben letztlich vage und unverbindlich. Nie mutet Jürgen Flimm seinem Publikum zu viel zu, schon gar nicht allzu schreckliche Einsichten in die Wirklichkeit. Das mag erklären, warum dies karnevalistisch gestimmte Naturell so gefragt ist. Flimms abklärende Heiterkeit wirkt in der Krise wie ein Hustenmittel.