Von wegen „Freie“ Hansestadt!

Die Bremer machten es den Juden lange Zeit schwer. Die kurze Zusammenfassung einer langen Geschichte

Neun von zehn Gemeindemitgliedern stammen aus der ehemaligen Sowjetunion

Bis 1803 gibt es Juden in Bremen nur als Durchreisende. Bürgerrechte können sie nicht erlangen. Im Jahre 1803 übernimmt die Stadt mit den hannoverschen Gebieten auch ein paar „Schutzjuden“. Erst die französischen Besatzer erlauben 1810 den Juden, gleichberechtigte Bürger zu werden. Doch Bürgermeister Johann Smidt dekretiert später: Alle Juden, die in der Franzosenzeit nicht das Bürgerrecht erworben haben, müssen die Stadt verlassen. Ihre Eingliederung in die christlich-bürgerliche Gesellschaft sei unmöglich. 1822 gibt es nur noch 49 Juden in Bremen, ab 1848 können sie Bürger werden, doch ist ein Zuzug unerwünscht. Erst 1876 entsteht die Synagoge in der Gartenstraße, heute Kolpingstraße.

1933 leben 1.438 Juden in Bremen. In der „Reichskristallnacht“ ermordet die SA in Bremen fünf Juden, und die Synagoge wird angezündet. 440 der Bremer Juden werden 1942 im Ghetto Minsk umgebracht, 254 in Auschwitz vergast. Nur wenige überleben.

Als Flüchtlinge oder Verschleppte kehren Juden nach der Befreiung auch nach Bremen zurück. Bis 1949 waren es 140 Personen. Als 1990 Glasnost den ersten zehn Juden aus der Sowjetunion die Flucht vor Antisemitismus nach Bremen ermöglicht, leben hier 129 Gemeindemitglieder. Die Zuzügler landen im Übergangswohnheim in Bremen-Nord. Von dort finden sie zur Synagoge in Schwachhausen, wo sie oft erste Hilfe erhalten. „Bei mir tauchte damals auch ein Christ auf“, erinnert sich der Bremer Landesrabbiner Prof. Dr. Benyamin Barslai. „Er drückte mir 10.000 Mark in die Hand, für die ersten zehn.“ Die konnten das christliche Begrüßungsgeld als Starthilfe gut gebrauchen.

Die ersten jüdischen Einwanderer stammen vor allem aus der Ukraine und aus Lettland. Ihrer Sprache wegen werden sie „russsische Juden“ genannt. Sie treffen unter den 129 Bremer Juden auf einige, die auch aus dem ehemaligen Ostblock kamen. Auch an Familien aus Moldawien erinnert sich die Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde, Elvira Noa.

Seit 1991 ist der Zuzug von Juden aus der ehemaligen Sowjetunion vertraglich geregelt: Sie bekommen eine unbefristete Aufenthalts- und eine Arbeitserlaubnis. Nach sieben Jahren können sie sich einbürgern lassen. Als erstes müssen sie Fuß fassen – oft mit Hilfe der Gemeinde. Doch da ist noch ein Problem: Die Neuen haben kaum religiöse Praxis – und Hebräischkenntnisse in den allerseltensten Fällen. Also beschließt Elvira Noa, man müsse das Judentum lehren. Sie führt in die häuslichen Sabbatriten ein und lädt Zugewanderte anfangs zu Sabbatbeginn freitags zu sich nach Hause ein. Als dort der Platz nicht reicht, zieht sie in Räume der jüdischen Gemeinde um.

Bei Wahlen zum Gemeindevorstand kommen 1995 erstmals zwei „russische“ Juden in den Vorstand. Elvira Noa wird Vorsitzende. Ihr Ziel: Den Neuen in der Gemeinde ein Stück Heimat anzubieten. Der Rabbi gibt im Gemeindezentrum wöchentlich Unterricht über das Leben der Juden. Mal kommen 50, mal 20 Personen. Inzwischen gibt es auch Gebetbücher mit kyrillischen Lettern, so dass die „Russen“ dem Gottesdienst folgen können. Dabei hilft dem Rabbi wieder ein Christ: Manfred Grund hörte von Geldnot, fragte „Wieviel brauchen Sie?“ und ließ einen Scheck über 700 Euro da – genug, um 500 Gebetbücher anzuschaffen.

Sonntags werden die Kinder in die Gebräuche und Riten des Judentums eingeführt sowie mit der Thora vertraut gemacht. Bald muss ein jüdischer Kindergarten her. Noa wendet sich hilfesuchend an die Evangelische Kirche. Pastor Louis Ferdinand von Zobeltitz und Ilse Wehrmann, die Koordinatorin der evangelischen Kitas, erreichen in der Behörde, dass der Kindergarten 1997 mit sechs Kindern eröffnet wird. Heute spielen dort 53 Kurze, nachmittags gibt es eine Hortgruppe. In einer Jugendgruppe organisieren Gruppenleiterinnen Workshops, Reisen und Parties, und im Jugendzentrum wird jüdischer Religionsunterricht angeboten. Erwachsene gründen einen Chor: Nach dem Auftritt des Chors Hamburger Juden heißt es, „Das können wir auch“. Larissa Tankejea leitet das Ensemble, Musiker aus der Gemeinde begleiten es. „Viele der neuen Mitglieder sind hoch gebildete Leute“, sagt der Rabbi. „Professoren, Doktoren, Ingenieure und eben Musiker“. Ein Seniorenclub trifft sich regelmäßig im Gemeindezentrum.

Fazit: Die Gemeinde hat mit ihren inzwischen fast 1.200 Mitgliedern beinahe wieder Vorkriegsgröße. Auch Bremerhaven hat wieder eine eigene Synagoge. Der Rabbi dort genießt den Zuwachs, und es freut ihn, dass die Frage, ob er den Minjan zusammen bekommt – die vorgeschriebene Zahl von zehn Männern, um einen Gottesdienst zu feiern – nach 1990 obsolet ist.

Mit Dankbarkeit weisen beide Rabbiner auf die Unterstützung hin, die ihnen die Stadt, vor allem aber Bürgermeister Henning Scherf entgegenbringt. „Und der eine oder andere Jude taucht auch in seinen Sprechstunden auf“, so Elvira Noa. „Die nehmen ihm beim Wort, sagt er doch immer: Wenn Ihr Probleme habt, kommt zu mir!“

Wilhelm Tacke