Ein halbes Herz für viele Tiere

Oft gelobt wird Berlins vor zwei Jahren eingeweihtes Tierheim, das größte in Europa. Kritische Tierfreunde sehen dennoch Grund zur Sorge. Es werde zu viel kastriert. Und Interessenten müssen in ein bestimmtes Raster passen

Das neue Tierheim geizt nicht mit Superlativen. 66 Angestellte mühen sich auf 16 Hektar um eine große heile Tierwelt: Etwa 12.000 herrenlose Haustiere sowie 10.000 wild lebende Freilandkatzen werden jährlich in den kreisrunden Zwingern in Falkenberg, Bezirk Lichtenberg, versorgt. Über 17.000 zahlende Mitglieder des „Tierschutzvereins für Berlin und Umgebung“ unterstützen das europaweit größte Tierheim, ein Teil des Budgets kommt durch Erbschaften herein. Als reines Privatunternehmen könnte es sonst nicht existieren. Die Boulevardpresse feierte die Zwinger-Rotunden vor zwei Jahren als „Luxus-Pavillons“, am 1. September feiert das Heim Geburtstag. Doch die heile Welt hat Risse.

„Tula“, eine zweijährige Mischlingshündin, bekam das zu spüren. Noch am Tag ihrer Einlieferung wurde sie operativ kastriert und mit einem Mikrochip versehen. Diese Behandlung ist im Tierheim gängige Praxis: „Es gibt sowieso zu viele Tiere, so dass wir alles tun, um eine weitere Vermehrung zu unterbinden“, sagt Pressesprecherin Carola Ruff mit Blick auf Hunde und Katzen: „Unkastriert geht bei uns nichts aus dem Haus.“

Das Verfahren ist nicht unumstritten. „Auch Tiere haben einen komplizierten Hormonhaushalt, der durch die Kastration beeinflusst wird. Nicht wenige werden danach dick und träge“, sagt die Berliner Tierärztin Gabriele Niesmann. Vor allem stört sie, dass das Tierheim durchgängig kastriert, ob das im Einzelfall angebracht ist oder nicht. „Da wird nicht differenziert, und die späteren Halter haben sich damit abzufinden.“ Dass dominante Rüden durch den Verlust der Fortpflanzungsfähigkeit sanfter werden, hält Niesmann „für ein Märchen, das aber für die Veterinärmedizin lukrativ ist“.

Nach den ferienbedingten Hunde-Aussetzungen kämpft das Heim gerade mit einer „Katzenschwemme“, die sich Pressesprecherin Ruff nicht erklären kann. Derzeit warten – statt der sonst üblichen 200 – über 400 Kater und Miezen auf ein Zuhause. Gerade bei den Katzenhäusern ortet Tierärztin Niesmann Fehler. Bei der Einweihung rühmte sich Architekt Dietrich Bangert, er habe als Kind mal ein paar Wochen mit Katzen gelebt. Verstanden habe er die Katzenseele nicht, meint Niesmann: „Die Tiere brauchen einen Rückzugsort.“ Die voll verglasten Boxen in Falkenberg stellen die Tiere dagegen „unter Beobachtungsdruck“. Andererseits können sie so von potenziellen Interessenten genau betrachtet werden. Heimsprecherin Ruff argumentiert mit der Vermittlungsquote: Bis zu 90 Katzen finden pro Woche neue Halter. Um zu verhindern, dass Tiere in die falsche Hand vermittelt werden, bekommt jeder Käufer einen unangemeldeten Kontrollbesuch durch ehrenamtliche Helfer. Eine Selbstauskunft soll zusätzlich Klarheit schaffen.

Für um die 60 Euro ist eine Katze, für etwa 220 Euro ein Hund zu haben. Die Käufer werden gelistet und sind über die Mikrochips der Tiere auch Jahre später zu identifizieren. Einmal ins Hautgewebe eingepflanzt, sind die Chips kaum wieder zu entfernen.

Beim Gang durch die schöne neue Tierwelt fällt der Stress manch stillen Hündchens auf, das zusammen mit einem Dauerkläffer im selben Zwinger sitzt – und sichtlich leidet, während sein Zellengenosse Interessenten verbellt. Der siebenjährige Jagdhund „Prolo“ bezahlte für seinen Aufenthalt gar mit der linken Ohrspitze: Ein anderer Hund biss sie ihm ab, als Besucher Leckereien in den Zwinger warfen.

Auffällig ist auch, dass hier nur der ein Tier bekommt, der in ein bestimmtes Raster passt. Ein stark tätowierter Rentner, der die nähere Bekanntschaft mit einem Pudel sucht, wird von einer Pflegerin brüsk abgewimmelt. Seine Bitte, den Hund auf einem Spaziergang kennenlernen zu dürfen, findet kein Gehör – der dafür übliche „Gassi-Vertrag“ wird mit Blick auf die Tattoos schlicht verweigert: „Es gibt keine Probeausläufe.“ Auf mehrwöchige Pflegeverträge, wie sie andere Tierheime anbieten, muss in Berlin nicht nur der Rentner verzichten.

Im Internet müht sich das Heim, seine „Sorgenkinder“ zu vermitteln: alte, kranke, schlecht erzogene oder als Kampfhund eingestufte Vierbeiner. Die Charakteristiken sind teilweise geschönt: Da wird ein Hund als „schüchtern“ beschrieben, der dann beim persönlichen Kontakt knurrt und in die Luft schnappt.

Über die letzte Frage in der Selbstauskunft künftiger Halter kann man sich da seine Gedanken machen: „Sind Sie Mitglied oder Spender im Tierschutzverein für Berlin?“ Drei Antworten stehen zur Wahl: „Ja“, „Nein“ und „Noch nicht“. GISELA SONNENBURG

Tierheim Berlin, Hausvaterweg 39, 13057 Berlin, Tel.: 76 88 80