Die Wiederbelebung des Friedhofs

Kurz hinter Zehlendorf liegt der Südwestkirchhof Stahnsdorf, einer der größten Friedhöfe Deutschlands. Um den verfallenden Park zu retten, lockt heute Nacht ein Förderverein mit prominenten Toten – darunter „Nosferatu“-Regisseur Murnau

von STEFFEN BECKER

Bambi kümmert sich nicht um Pietät. Das Reh läuft über die Toten und knabbert genüsslich am Blattwerk kleiner Bäumchen herum. Man kann Bambi keinen Vorwurf machen. Selbst für das menschliche Auge ist es manchmal schwer zu erkennen, dass auf dem Südwestkirchhof Stahnsdorf, mit 206 Hektar einem der größten Deutschlands, 110.000 Personen beerdigt wurden. Okay, zwischen den Bäumen erkennt man ein Mausoleum mit Säulen, Büste und pathetischer Schnörkelinschrift. Aber Bambi hat Hunger und dafür keinen Blick. Die Besucher der „Langen Nacht“ heute Abend werden es besser machen. Die Veranstaltung lockt die Lebenden mit Totentänzen, Musik und Theater auf einen der ungewöhnlichsten Friedhöfe Deutschlands, südlich von Zehlendorf.

Ein buntes Haus nahe dem Eingang weist auf den Südwestkirchhof hin, ein Grafikkünstler hat es mit starken Farben bemalt, mit einem leuchtenden Pavillon im Mittelpunkt. Auf dem Gelände steht der Besucher aber erst mal im Wald. Das hier ist doch kein Friedhof, wo sind die gepflegten Standardgräber, wo die Blumenberge über frischen Grabstätten, wo die schnurgeraden asphaltierten Wege?

Als man auf den innerstädtischen Friedhöfen nicht mehr wusste, wohin mit den Leichen, kaufte die evangelische Stadtsynode 1902 das Gelände. Der Garteningenieur Louis Meyer schuf darauf etwas völlig Neues, asymmetrisches Wegenetz, viele Freiflächen – weniger Friedhof als Park mit Gräbern. Ein Jahrhundert später sind die Sichtachsen teilweise zugewuchert, aus dem Park wurde ein dichter Kiefernwald. Die Glanzstücke des Südwestkirchhofs hat sich die Natur noch nicht zurückerobert. „Die Bestattungskultur früher war eine ganz andere, damals bauten sich wohlhabendere Menschen noch kleine Häuser als Ruhestätten“, sagt Verwalter Olaf Ihlefeldt. Oder eine Festung: Werner von Siemens ließ ein Mauerrechteck samt schmiedeeisernem Tor um die Gräber seiner Familie ziehen. Oder ein expressionistisches Denkmal: Die Kaufmannsfamilie Wissinger liegt unter schmalen steinernen Spitzbögen, einer ist eingestürzt.

Daneben steht ein Holzklo für die Arbeiter, die derzeit einige Gräbstätten sanieren. Das Geld kommt von einer Lottostiftung. „Die wichtigsten Denkmäler können wir so retten“, sagt Ihlefeldt. Der Rest bröckelt vor sich hin. Achtlos lehnt eine Steinplatte an einem Baum, vom Moos so überwuchert, dass die Inschrift „Geliebt, beweint, unvergessen“ kaum mehr lesbar ist. An den Pavillons und Zierbrunnen kriecht der Grünspan hoch, Wurzeln sprengen das Mauerwerk.

Ihlefeldt kann den Verfall mit seinen 15 Mitarbeitern und dem kleinen Etat der evangelischen Landeskirche kaum aufhalten. In den Anfangsjahren pflegten über 100 Angestellte die Anlage, aber damals bezogen hier auch mehr als 110 Menschen im Monat die letzte Heimstatt, angeliefert per S-Bahn zum eigenen Friedhofsbahnhof. Heute sind es noch 80 – pro Jahr. Der Südwestkirchhof vor den Toren Berlins nahm ursprünglich fast alle Toten aus dem Westen der Stadt auf. Nach dem Mauerbau riss der Nachschub völlig ab und heute herrscht auf den innerstädtischen Friedhöfen kein Platzmangel mehr. Eine riesige Anlage in der brandenburgischen Pampa wird nicht mehr gebraucht – nicht als Begräbnisstätte.

Dafür als Ort der Erinnerung. „Auf dem Kirchhof kann man Geschichte erfahren, wie es in der Stadt kaum mehr möglich ist“, sagt Peter Hahn. Der FAZ-Reisejournalist ist Mitglied im Förderverein, den Verwalter Ihlefeldt im Jahr 2000 ins Leben rief. Die Erinnerung an bedeutende Persönlichkeiten wie Verleger Langenscheidt oder Architekt Gropius soll lebendig bleiben, die Spannungsfelder des Kirchhofs sichtbar – die Gruft des Regisseurs F. W. Murnau mit Drei-Meter-Steintafel und Kopfbüste steht direkt neben frischen Gräbern mit Hecke, schlichtem Kreuz und blauen Plastikblumen, in einer Ecke erinnert ein Grabstein mit Hakenkreuz an „unser einziges Kind“, gefallen vor Leningrad, an anderer Stelle finden sich zur selben Zeit ausgehobene jüdische Gräber.

„Um all das zu retten, braucht der Friedhof Öffentlichkeit“, sagt Hahn, dessen Verwandte zum Teil hier begraben sind. Er nutzte seine Kontakte und organisierte die „Lange Nacht“ auf dem Südwestkirchhof. An 33 Spielstätten erinnern die Mitwirkenden an hier bestattete Persönlichkeiten. Auf einer Wiese kriecht ein Vampir aus dem Sarg – in Murnaus Film „Nosferatu“. Das Maxim Gorki Theater zeigt Szenen aus „Effi Briest“ – am Grab der Baronin von Ardenne, die Fontane zu dem Stück inspirierte.

Und Albert Speer muss büßen. Auf dem nach ihm benannten Friedhofsweg spielen Schauspieler die Verhöre von „Hitlers unglücklicher Liebe“ nach. 1938 hatte der Architekt entschieden, dass einige Friedhöfe nicht in die geplante Nazi-Reichskapitale „Germania“ passen. 33.000 Gräber wurden auf den Südwestkirchhof verlegt, die schönsten Grabmale bilden die Speerallee, ein Kilometer Monumente im Barock-, Gotik- und Jugendstil.

3.000 Besucher erwartet Verwalter Ihlefeldt. Die Lange Nacht soll den Friedhof bekannt machen, um mit weiteren Aktionen den Verfall aufzuhalten – etwa Patenschaften: Interessenten übernehmen Verantwortung für eine Grabstätte und können sich dafür dort beisetzen lassen.

„Der Sonne Gold umschwebt deinen Hügel / und Friede weht durch Wald und Flur / wie Geisterhand auf lichtem Flügel / kommt mir der Trost, du schläfst ja nur.“ Ihlefeldt nimmt sich die Grabinschrift zu Herzen, die morbide Melancholie des Friedhofs muss keine immerwährende Stimmung sein. Die „Lange Nacht“ bringt Aufmerksamkeit, die den Friedhof aus seinem Schlaf erwachen lassen und Ihlefeldts Vision eines „lebendigen Bestattungsplatzes“ zum Leben erwecken kann.