Pauschalurlaub beim Zahnarzt

In Sopron an der Grenze zu Österreich haben sich ungarische Zahnärzte auf Medizintouristen spezialisiert. Patienten kommen aus aller Welt, um sich günstig neue Kronen verpassen zu lassen. Auch Fettabsaugen oder Faltenglätten ist in Ungarn billiger

von BARBARA GEIER
und EDITH KRESTA

Das Pannonia Hotel ist ein repräsentativer Bau, ein ehrwürdiges, altes Etablissement im Zentrum von Sopron. Der barocke Charme mischt sich mit einem Hauch von sozialistischen Brauntönen, die langsam mit freundlicheren Farben übertüncht werden. Ein paar besonders edle Zimmer sind mit schweren Antiquitäten bestückt, doch in manchen Sälen dämpft noch billige Holzverkleidung den neuen Sound.

Das modernisierte Pannonia trotzt dem nagenden Zahn der Zeit, und es beherbergt auf seinen Etagen einen repräsentativen Querschnitt der touristischen Attraktionen von Sopron: Brillenladen, Zahnarztpraxis, Schönheitschirurgie, Kosmetiksalon und Friseur. „Unsere Philosophie ist“, so der Hotelmanager Csizmazia Balázs: „Alles in einem Haus.“ Alles, damit meint er sämtliche Dienstleistungsangebote der westungarischen Stadt, die aufgrund niedrigerer Löhne und damit günstiger Preise besonders Österreicher aus dem 60 Kilometer entfernten Wien und dem Burgenland anziehen.

Sie nutzen den kleinen Grenzverkehr, um sich die Falten glätten und die Haare färben zu lassen. Fettabsaugen, Nasenkorrektur, Body-Piercing und insbesondere Zahnsanierung sind weitere Dienste am Menschen, die in der Soproner Innenstadt neben ungarischer Wurst und Paprika gehandelt werden. Viele Familien schlendern durch die Geschäftszone mit den kleinen Läden und Salons. Mama hat mindestens frisch lackierte, rote Nägel, der Sohn kurz geschnittenes, noch feucht glänzendes Haar, und Papa holt gerade die Preise in einer der unzähligen Zahnarztpraxen ein, bevor man eine fleischreiche Mahlzeit in einem der vielen Restaurants zu sich nimmt.

Unter die 60.000 Einwohner des Städtchens haben sich 268 Zahnärzte gemischt. Wie der gotischen Altstadt nach einem verheerenden Großbrand Barockes aufgesetzt wurde, so setzen diese in brüchige Gebisse einer internationalen Klientel neue Zähne. „Man kann sagen, dass in fast jedem Haus ein Zahnarzt arbeitet“, weiß Ewa Kissne Vitez, die mehrere Sprachen spricht und früher Reiseleiterin in Sopron war. Sie steht mit ihren Freunden in dem eindrucksvollen Gewölbe eines alten Weinkellers.

Der Weinkeller liegt in der sanierten Altstadt Soprons gegenüber dem steinernen Dreifaltigkeitsdenkmal, das die Bürger der Stadt als Dank für ihre Rettung vor der Pest errichten ließen, und neben der Kirche der heiligen Jungfrau Maria, die gerade renoviert wird. Das Lokal ist abends gut gefüllt. Einheimische und Touristen trinken den Soproner Tafelwein, ein kräftiges rotes oder süßliches weißes Tröpfchen, das mit der Kelle aus schmalen Eimern in die Gläser geschöpft wird. Im Kreis ihrer Freunde zeigt Ewa auf ihren neuen Porzellanzahn im Mund. „Für so ein Stück muss man 15.000 Forint, fast ein Viertel eines durchschnittlichen Monatslohns, bezahlen. Das ist normalerweise ein bisschen teuer für uns“, meint sie nicht ohne Stolz auf ihre Errungenschaft. So schöne Zähne sind nicht für alle Ungarn erschwinglich. „Die Leute in Ungarn leben oftmals ohne Zähne. Warum? Weil die Zahnärzte für uns sehr teuer sind,“ erklärt Ewa.

Nicht aber für die Zahntouristen aus dem Westen: Die Preise für Zahnersatz sind hier um vierzig bis sechzig Prozent niedriger als in Deutschland oder Österreich. Über 100.000 Deutsche kamen im vergangenen Jahr in die Region, und manche von ihnen kehrten mit neuem Gebiss nach Hause zurück.

Dabei hat die Grenzstadt durchaus mehr zu bieten als ungarische Kronen im Gebiss: die lange Geschichte einer keltischen Gründung und römischen Besiedlung, Spuren wilder Tataren und kolonisierender Osmanen, eine Altstadt mit gotischer und barocker Architektur. Und rings um Sopron eine wohlgeformte, hügelige Landschaft zwischen Neusiedler und Plattensee. Hier nahm die deutsche Einheit ihren Anfang, als der damalige Außenminister Horn am 27. Juni 1989 ein Stück Stacheldraht aus dem Eisernen Vorhang schnitt. An das Ereignis soll im nächsten Jahr mit einem paneuropäischen Picknick gebührend erinnert werden.

László Szilagyi, der Zahnpatriarch von Sopron, Besitzer des Pannonia Hotels und ungarischer Patriot, gehört zum Unterstützerkreis des Picknicks. Er sponsert auch die schönen Künste: Überall im Pannonia Hotel hängt in den verwinkelten Gängen zwischen antiquierten Möbeln moderne Kunst. Szilagyi lebt seit zwanzig Jahren hier und hat mit Frau und Sohn eine anerkannte Zahnarztdynastie begründet. „Wir haben 16.000 Patienten in unserer Kartei, ungefähr die Hälfte sind Ausländer. Sie kommen aus Österreich, Italien, Deutschland, aus der Schweiz, Holland und manchmal auch aus Skandinavien. Und in der Sommersaison auch aus Amerika und Australien“, erzählt Szilagyi, dem auch ein großes Zahnlabor gehört.

Selbst ein österreichischer Gesundheitsminister hat sich bei den Szilagyi behandeln lassen – „vor einigen Jahren“, wie Szilagyi hinter vorgehaltener Hand erzählt. Und dabei warnt das österreichische Gesundheitsministerium ausdrücklich vor Auslandsbehandlungen, weil „die Kostenbilanz eher negativ“ sei. Und schlägt sich damit auf die Seite der eigenen Dentisten, denen die billige ungarische Konkurrenz seit Jahren schwer zu schaffen macht.

Patienten aus Deutschland oder Übersee bleiben oft zwei, drei Wochen in der Region, lassen sich die Zähne anpassen und machen dann Urlaub, bis die Prothese fertig ist. Für das beim Zahnersatz eingesparte Geld können sie am Plattensee wunderbar entspannen. Oder sie lassen sich bei einer der vielen Kosmetikerinnen zu den neuen Zähnen ein ausdrucksvolles Permanent-Make-Up auflegen und beim Optiker eine neue Brille anpassen. Anfertigung garantiert in einer Stunde und mit modernster Technik.

Goldgräberstimmung unter Zahnärzten herrschte schon in den 80er-Jahren, als die Ost-West-Grenze durchlässiger wurde. Damals kam auch der Dresdner Dietmar Brandt nach Sopron. Nur widerstrebend will er über Zahntourismus reden. Offensichtlich hat er Angst, als Absahner abgestempelt zu werden, als einer, der das schnelle Geld machen will. Er habe ganz normale Patienten und brauche keine Zahntouristen. Dass sich auch in seiner Praxis der ein oder andere Westgast das Gebiss ausbessern ließ – „Einer kam sogar aus Indonesien“ –, habe jedenfalls nichts damit zu tun. „Schwarze Schafe gibt es überall“, winkt er ab.

Die Adressen der Zahnärzte werden per Mund-zu-Mund-Propaganda gehandelt. Ob ein Zahnarzt gut oder schlecht ist, weiß man ohnehin oft erst zu spät. Beim Kurztrip ist das Risiko noch größer. Vor Pfusch wird gewarnt – nicht nur von der ärztlichen Konkurrenz auf der anderen Seite der ungarischen Grenze, in Österreich: Denn wenn das Gebiss nicht richtig sitzt und eine erneute Anreise nötig wird, schrumpft der ursprüngliche Preisvorteil für von weit her Angereiste schnell zusammen, oder die Sache wird sogar zum risikoreichen Zuschussgeschäft.

Bislang müssen deutsche Patienten in Ungarn den Zahnersatz in der Regel aus der eigenen Tasche bezahlen, wenn sie Mitglied einer gesetzlichen Krankenkasse sind. Privat Versicherte bekommen die Kosten erstattet. Bedingung: Die Kronen müssen von einem niedergelassenen Zahnarzt im Ausland aufgesetzt werden und nicht von einem anonymen Institut. In welcher Höhe und ob erst mal ein Behandlungsplan vorgelegt werden muss, kommt allein auf den Vertrag an, den der Patient mit seiner Privatkasse geschlossen hat. Wenn Ungarn im Mai 2004 Mitglied der EU sein wird, müssen wohl auch die gesetzlichen Kassen zahlen. Erst kürzlich hat der Europäische Gerichtshof die freie Arztwahl auf die EU-Staaten ausgeweitet. Wie man sich allerdings vor Pfusch schützen kann, weiß auch der renommierte László Szilagyi nicht: „Es kommt auf das handwerkliche Können und die technische Ausstattung an“, sagt er lapidar.

Trotz Horrormeldungen über schmerzende Prothesen und schlechtes Material – die Zahntouristen zieht es nach Sopron und anderswo in Ungarn. Einige Schweizer Reiseveranstalter bieten inzwischen sogar Pauschalarrangements zur Gebisssanierung in Ungarn an, unter anderem auch in Budapest.

Doch Sopron bietet auch andere Events als nur profane Dienstleistung und neue Zähne. Weil der große Musiker Franz Liszt im kleinen Städtchen Doborján bei Sopron geboren wurde, das jetzt zu Österreich gehört und Raiding heißt, und im Alter von neun Jahren in Sopron sein erstes Konzert gab, veranstaltet die Stadt jeden Sommer ein renommiertes Piano-Festival. Möglich machen auch das die vielen Zahntouristen. Ein Teil des Geldes, das sie in neue Zähne stecken, fließt als Spende an das Festival zurück.