Mit großen Schritten aus der Obskurität

Kelli White ersprintet sich bei der Leichtathletik-WM doppeltes Gold und tut einiges für ihren Kontostand

Eine halbe Million Dollar sind ein hübscher Batzen Geld, und Kelli White hätte sicher nichts dagegen gehabt, diesen beim letzten Golden-League-Meeting am 5. September in Brüssel in Empfang zu nehmen. Auf der anderen Seite sind Weltmeistertitel über 100 und 200 Meter auch nicht zu verachten.

Man darf wohl davon ausgehen, dass die 800-m-Läuferin Maria Mutola den Jackpot der Golden League, den es für Siege bei allen sechs Meetings gibt, in jedem Fall knacken und die Goldbarren im Werte von einer Million Dollar allein einheimsen wird. Kelli White hätte das Zeug gehabt, der Mosambikanerin die Hälfte des güldenen Schatzes streitig zu machen, doch sie patzte schon beim ersten Meeting in Oslo. Knappe Niederlage über 100 m, damit konnte die 26-jährige Kalifornierin die Golden League abhaken und ihre Kräfte voll auf die WM konzentrieren. Vorwiegend in Deutschland, wo der Speerwerfer Boris Henry zu Hause ist, ihr „gegenwärtiges romantisches Interesse“ (Website des Weltverbands IAAF), bereitete sie sich intensiv auf das großes Saisonziel vor. Mit durchschlagendem Erfolg.

Als erste Sprinterin nach Silke Gladisch (DDR) 1987 in Rom und Katrin Krabbe (Fast-noch-DDR) 1991 in Tokio gewann Kelli White beide Sprintstrecken und entfleuchte eindrucksvoll dem Schatten von Marion Jones, der alle anderen Läuferinnen lange in relative Obskurität versetzt hatte. Jones legte in diesem Jahr eine Babypause ein, ihre Vertreterin – manche glauben: Nachfolgerin – vermied es aber, die Konkurrentin mit spitzen Bemerkungen zu piesacken, wie sie im Männersprint obligatorisch sind. Lediglich einen Seitenhieb konnte sich White nicht verkneifen. „Ich hoffe, dass ich jetzt anerkannt werde in der Welt der Leichtathletik“, sagte sie, „eine Menge Frauen hier fühlen sich zu wenig anerkannt.“

Kelli Whites Herkunft zeichnete eine Laufbahn als Spitzenläuferin förmlich vor. Die Eltern waren beide Sprinter, Vater Willie verpasste einst knapp die Qualifikation für die 100 m bei den Olympischen Spielen 1960 in Rom, Mutter Debbie startete für Jamaika bei Olympia in München. Und noch eine Verbindung gibt es zu den Spielen 1972. Kelli Whites Coach Remi Korchemny war damals der Trainer von Waleri Borsow, dem sowjetischen Sprinter, der über 100 und 200 m siegte. Auf Anraten des heute 71-jährigen Ukrainers legte sie zehn Pfund an Gewicht zu und nahm 400- sowie 3.000 m-Läufe in ihr Trainingsprogramm auf. Die so gewonnene Ausdauer kam White bei den vielen Rennen, die sie in Paris zu absolvieren hatte, sehr zugute. Nach dem 200-m-Triumph am Donnerstagabend war sie dann aber so ausgepumpt, dass sie kaum noch jubeln konnte. „Allein die Nationalflagge zu halten, hat meine ganze Energie gekostet.“

Remi Korchemny hatte Kelli White auch empfohlen, neben den 200 m unbedingt die 100 m zu laufen. Begründung: Da kann man mehr Geld machen. Mit ihrem Doppelsieg dürfte Kelli White nun tatsächlich in den Kreis der Großverdiener der Leichtathletik aufgestiegen sein. Vor allem die Rivalität mit Marion Jones lässt sich bestens vermarkten, schon ist die Rede von einem baldigen Duell mit der rückkehrwilligen Mama in Moskau sowie einem 300-m-Lauf gegen Jones und Ana Guevara in Kalifornien. Eine Art Jackpot hat Kelli White am Ende also doch noch geknackt. MATTI LIESKE