Die innere Unsicherheit

Eine der wenigen Debütantinnen in diesem Herbst: Larissa Boehning schreibt in ihrem Erzählungenband „Schwalbensommer“ gegen Leere und Sprachlosigkeit an. Ein Porträt

Die Romanfiguren haben große Sehnsucht nach echten Begegnungen

von TINA GINTROWSKI

Ein Mensch, der bei einem anderen Menschen bleiben will, eigentlich, aber es ist kein Platz. Oder zwei Menschen, die zueinander wollen, irgendwie, aber beide ausweichen. Oder drei, von denen mindestens zwei unzertrennlich sind. Und alles Menschen, die auf der Suche sind.

Larissa Boehning schreibt sich in ihrem Debüt „Schwalbensommer“ ganz nah an diese Menschen heran, an die innere Leere, unter der sie alle zu leiden haben und die sie auf unterschiedlichen Wegen zu füllen versuchen. Durch Liebesbeziehungen oder mit Reisen, etwa ins gelobte Land Israel, wie in der Erzählung „Full Speed Neutral“, oder nach Amerika, wie in „Nordstern“.

Natürlich und freundlich wirkt Larissa Boehning, als wir uns in einem Café in Mitte treffen. Groß ist sie, schlank, dunkelblonde, lange Haare. Schreiben sei ihr schon immer wichtig gewesen, erzählt die jetzt 32 Jahre alte Autorin gleich zu Beginn des Gesprächs, richtig professionell sei es für sie aber erst bei der Teilnahme an einer Schreibwerkstatt in Lüneburg geworden. Schritt für Schritt ging es dann weiter: Teilnahme an der Werkstatt Junger Autoren in Berlin, dann ein Stipendium beim LCB, schließlich im letzten Jahr der Literaturpreis Prenzlauer Berg für eine Erzählung aus dem Band „Schwalbensommer“, der dieser Tage bei Eichborn Berlin erschienen ist. Alles erstaunlich große und schnelle Schritte in einer Zeit, die es jungen Autoren nicht gerade leicht macht, wie auch Boehning findet. Fast scheint sie selbst erstaunt über diese Entwicklung.

Aber woher kommt dagegen diese Leere, gegen die ihre Figuren allesamt ankämpfen? Larissa Boehning überlegt lange, um diese Frage zu beantworten. Möglicherweise sei eine Ursache der mangelnde Zugang zur eigenen Geschichte, oft bedingt durch Kommunikationsstörungen. Und gerade durch ihre Unausgesprochenheit würden manche Ereignisse über viele Generationen fortwirken, was sie beispielsweise in der Erzählung „Stummer Fisch, Geliebter“ auch durch die Verknüpfung verschiedener Zeitebenen darzustellen versucht habe.

Damals, sagt die Mutter in der Erzählung, habe ihre Mutter einen Fisch, den sie als Kind gefangen hatte, getötet; heute beschreibt die Enkelin ihren Geliebten als „Fisch mit teilnahmslosem Blick“. Boehning faszinieren diese Zusammenhänge, die sich oftmals erst auf den zweiten Blick erschließen. „Im Übrigen nehme ich mein Leben selbst auch so wahr“, sagt sie, nicht ohne Hintersinn, denn sie arbeitet freiberuflich auch noch als Grafik-Designerin und versucht, ihre zwei wichtigsten Tätigkeiten strikt zu trennen: Vormittags wird geschrieben, nachmittags für ihre Ein-Mann-Agentur gearbeitet. In ihren Erzählungen aber treffen sich die beiden Bereiche dann doch manchmal: „Melonenbauch“ spielt im Umfeld der Werbeagenturen in Berlin-Mitte, in der Zeit nach dem extremen Firmengründungsboom Ende der Neunzigerjahre, als den exzessiven Partys und dem allgemeinen Erfolgsrausch ein ziemlich unsanftes Erwachen folgte: „Man hockt die ganze Zeit vor dem Computer und starrt auf den Bildschirm“, erzählt Larissa, „und wenn man ihn ausschaltet, wird er schwarz. Dann sieht man darin plötzlich das eigene Gesicht und fragt sich: Worum geht es im Leben eigentlich wirklich?“ Nur ums Feiern sicher nicht. Larissa Boehning selbst wirkt jedenfalls nicht so, als könnte sie sich an irgendeine Form von Rausch dauerhaft verlieren: zu nachdenklich, zu selbstreflektiert. Ihre Art ist eher bedacht als unüberlegt, was sich auch in ihrer Kleidung niederschlägt: schwarz und zeitlos stilvoll.

Ratlos sind sie, die Figuren Larissa Boehnings, und oft steht das in enger Verbindung mit Sprachlosigkeit. „Manch ein Matrose verliert sein Schiff, aber ich, ich habe mein Meer verloren“ singt die russische Großmutter, die sich ihr Leben lang fremd fühlt in Deutschland und sich weigert, die neue Sprache zu lernen. Das Wichtige bleibt ungesagt und ist doch durch geschickt gesetzte Leerstellen und oftmals wenige Worte sehr präsent in den Erzählungen. „Achtung“, sagt die Protagonistin in „Spielen oder um die Insel gehen“ immer wieder, „halblang“. „Die Worte waren verbraucht. Es gab nichts mehr zu sagen“, heißt es in „Verplombtes Meer“.

„In gewisser Weise resultiert auch mein Schreiben aus dieser Sprachlosigkeit“, überlegt Boehning. Ihre Figuren jedenfalls haben eine große Sehnsucht nach wirklichen Begegnungen. Zu diesen könne es aber, so Boehning, erst dann kommen, wenn die defensive Haltung aufgegeben werde: Schonungsloser mit sich selbst werden, muss die Devise lauten. Sich weiter vorwagen, mehr Grenzen überschreiten. Auch in ihrem Schreiben möchte Larissa Boehning schonungsloser werden. Aber dennoch nicht lieblos mit ihren Figuren umgehen. Denn das ist etwas, was sie in der Literatur nicht mag.

Über ihre Erzählungen sagt sie selbst: „Aus der Hoffnung, kurzfristig Teil eines Aufschwungs am Ende der Neunziger geworden zu sein, aus der Gewissheit, dass er nicht lange währen wird, speiste sich dieses unruhige Lebensgefühl, ein Schwanken zwischen Euphorie und Existenzangst.“ Der große Kater der Generation Golf also? Larissa Boehning macht nicht den Eindruck, als sei ihr vor kurzem der Boden unter den Füßen entzogen worden. Aber sie vertritt den Standpunkt, dass man Symptomen wie Leere, Unsicherheit und Orientierungslosigkeit durchaus auf den Grund gehen solle und man sie nicht zuletzt auch mit der eigenen Geschichte in Verbindung bringen könne. Hilfreich ist das allemal.

Larissa Boehning: „Schwalbensommer“. Eichborn Verlag Berlin 2003, 156 Seiten, 17,90 €