Präsent, aber wütend

Keeper Jens Lehmann lässt bei Arsenal schnell David Seaman vergessen und stänkert mal wieder gegen Kahn

MANCHESTER taz ■ Irgendwann gewöhnt man sich daran, dass man im Leben auf die großen, wichtigen Fragen keine eindeutigen Antworten bekommt. Alles ist relativ, schrecklich kompliziert, eine neblige Grauzone eben. Der Fan aber hat das Glück, aus dieser deprimierenden Ambivalenz in das binäre System des Fußballs flüchten zu können: unter dem gleißenden Scheinwerferlicht gibt es Siege und Niederlagen, und sämtliche Details werden in 90 Minuten abschließend geklärt.

Arsène Wenger weiß das. Wochenlang musste sich der Franzose von der englischen Presse fragen lassen, warum er um Himmels willen den verdienten Highbury-Helden David Seaman ausgemustert und dafür den hierzulande recht unbekannten Jens Lehmann ins Arsenal-Tor gestellt hat. Wenger musste nur ruhig abwarten. Seit Sonntag, dem vierten Spieltag in der Premier League, hat sich die Sache erledigt.

Manchester City gegen Arsenal, 72. Minute, Spielstand 1:1: der Ball springt zwischen Freund und Feind in den Strafraum, doch anstatt sich kompromisslos dazwischen zu werfen, erwischt der zögerliche City-Keeper mit dem Pferdeschwanz eines 1989er Acid House-Ravers aus Essex das Spielgerät nur mit den Knien, Arsenal-Stürmer Freddy Ljungberg kann sein Glück kaum fassen und schiebt den Ball ins leere Tor. Endergebnis 1:2, drei glückliche Punkte für ein über weite Strecken sehr lethargisches Arsenal. „Ein lächerlicher Treffer“, jammerte City-Trainer Kevin Keegan hinterher, der das engagierte Spiel seiner Elf in kurzen Hosen und Aluminiumstollen-Schuhen verfolgt hatte. Seaman, seine knapp 40-jährige Nr. 1, wurde nach dem Schlusspfiff im Stadion ausgiebig beklatscht – zumindest von den vielen mitgereisten Arsenal-Fans. Auf den Fauxpas seines Exspielers angesprochen, sagte Wenger mit einem wissenden Schmunzeln das, was er immer sagt, wenn er lieber nichts sagen will: „Ich konnte die Sache leider überhaupt nicht sehen.“ Natürlich nicht.

Vor dem Spiel hatte der schlaksige Fußballlehrer zugegeben, aus alter Gewöhnung noch oft „Seaman“ anstatt „Lehmann“ auf den Spielberichtsbogen zu schreiben. Auch sein rechter Verteidiger Lauren schien in der 10. Minute vergessen zu haben, wer genau sein Torwart war: nach einem 30-Meter-Sprint und einem kleinen Schubser von seinem Verfolger Trevor Sinclair schoss der Kameruner mit links unhaltbar für Lehmann ins Netz: ein kurioseres Eigentor wird man diese Saison kaum erleben. Das begabte Ensemble aus London geriet in der Folge völlig aus dem Rhythmus und Keegans Mannen sorgten mit einfachsten Mitteln für Gefahr: PSV-Veteran Paul Bosvelt stieg Patrick Vieira andauernd auf die Füße und Michael Tarnat durfte lustvoll lange, diagonale Bälle in Richtung Nicolas Anelka bolzen, die Chaos in der Abwehr der „Gunners“ verursachten. Allein der starke Lehmann verhinderte mit drei großen Paraden Schlimmeres, bis sich der Vizemeister nach der Pause auf seine Genialität besann und durch Sylvain Wiltord (48.) und Ljungberg das Blatt wendete.

Der vorzügliche 33-jährige Torwart wurde hinterher von Mitspieler Martin Keown für seine „ruhige Ausstrahlung“ und von Wenger für seine „Präsenz“ gelobt, und auch die Arsenal-Fans haben freudig registriert, dass diese Saison Flanken tatsächlich gefangen werden. Nur in Deutschland vermisst Lehmann die gebührende Zuneigung. „Ich bekomme nicht den richtigen Respekt“, hat er sich am Samstag im Daily Telegraph beschwert. „Ich habe Pech, dass ich die Nr. 2 in der Nationalmannschaft bin, ich denke, ich sollte spielen. Ich bringe zur Zeit bessere Leistung als die Nr. 1. Das macht mich wütend, sehr wütend.“

Lehmanns Äußerungen werden diese Woche wohl für kleinere atmosphärische Störungen sorgen, doch seinem Arbeitgeber Arsenal lacht derweil die Sonne. Nach Manchester Uniteds unerwarteter 0:1-Niederlage bei Southampton stehen die Londoner ganz oben in der Tabelle. Nur abseits des Platzes blieb mal wieder eine wichtige Frage offen: Wer hatte um vier Uhr morgens im Mannschafts-Hotel den Feueralarm ausgelöst? Wenger, den man an der Themse am Anfang seiner Amtszeit wegen seines starken Akzents als „Inspektor Clouseau“ belächelte, hatte keine Beweise, aber einen schrecklichen Verdacht: „David Seaman wohnte auch bei uns im Hotel, aber er kam nicht raus, als der Alarm losging. Vielleicht ging er ja in seinem Zimmer nicht?“

RAPHAEL HONIGSTEIN