Der Ur-Kreuzberger kehrt zurück

Gerhard Seyfried stellt heute seinen neuen Roman vor und kehrt damit offiziell aus der Schweiz nach Berlin zurück. Der Romancier hatte offenbar Heimweh, auch nach dem kurzen Sommer der Anarchie

VON HANS W. KORFMANN

Es war Zufall. Die WG in München löste sich auf, Seyfried brauchte vorübergehend ein Zimmer. Und in Berlin war gerade ein Zimmer frei. „Es hätte auch Bochum oder Stuttgart sein können.“ Aber es war eben Berlin. Und Berlin, 1976, „war ein Hammer für einen, der aus München kam“.

Er wollte nur vorübergehend bleiben. Es sind 28 Jahre geworden. In diesen 28 Jahren wurde er zum „Szene-Cartoonisten“, zu einer Art Urkreuzberger stilisiert. „Was ein Quatsch ist, weil ich ständig unterwegs war, in Amerika, Afrika, Holland … und weil ich erst einmal sechs Jahre im Westend, später in Tiergarten und Moabit gewohnt habe. Aber irgendwann hat das mal einer geschrieben, und da die seit Jahrzehnten alle voneinander abschreiben, bin ich eben der Kreuzberger Szene-Cartoonist.“

Wenn Seyfried einmal zur „Szene“ gehörte, dann höchstens für ein paar Monate. „Von 1980 bis 1981!“ Und das war wieder purer Zufall. Sie hatten eine Wohnung besetzt – kein Haus, aber immerhin. Und weil ein schwedisches Fernsehteam gerade eine Reportage über die Berliner Hausbesetzerszene drehte, gaben die neuen Bewohner der okkupierten Wohnung eine Pressekonferenz. Während die Schweden drehten, brachen im Auftrag des Hauseigentümers Bauarbeiter die Wohnungstür auf, um Seyfried & Co an die frische Luft zu setzen. Zwei Tage später hatten sie einen Mietvertrag in der Tasche!

Vom Hausbesetzer Seyfried konnte also kaum die Rede sein. Doch seit damals steckt Seyfried in dieser Schublade, in der es irgendwann zu eng wurde. So eng wie in den alten Jeans, die er längst gegen den ersten Anzug seines Lebens eingetauscht hat. Für seine Auftritte als Autor. Denn bereits 2003 legte er seinen ersten Roman vor, „Herero“, einen 600 Seiten langen Beweis dafür, dass er mehr kann als nur Bilder von Kreuzberg und Polizisten zeichnen.

Natürlich sprachen wieder alle vom Kreuzberger Cartoonisten, der jetzt schreibt. Und als der Tagesspiegel plötzlich aus heiterem Himmel verkündete, dass Seyfried in die Schweiz ziehe, fuhr er eben in die Schweiz. Um sich umzusehen. Als die Leute, für die er dort zeichnete und textete, ihm eine nette Wohnung mit integriertem Geschirrspüler zeigten, als sie ihn durch ein ruhiges Städtchen führten mit Wiesen drum herum und Stille, als sie ihm die kostenlose Versorgung mit Gras in Aussicht stellten, wurde er nachdenklich. Und als er dann feststellte, dass das Eisenbahnfahren in der Schweiz tatsächlich noch ein Vergnügen war, blieb er.

Denn kaum etwas im Leben des Gerhard Seyfried ist so wichtig wie die Eisenbahn. Nicht das Zeichnen, nicht das Schreiben, auch nicht die Frauen haben seine Liebe zu den sanften Kurven der Schienenstränge, dem zarten Geflecht der Weichen, dem rhythmischen Atemstoß der Modelleisenbahn schmälern können. „Das ist eine Entscheidung, vor der jeder wirkliche Mann einmal steht: Eisenbahn oder Familie!“ Also packte er im Mai 2003 alles in wattierte Kartons: 25 Lokomotiven, über 200 Waggons, Bahnhofsgebäude, Wiesen und Hügel, Loren und Kohleberge aus echter, handgesiebter Union. „Detailfanatiker!“, sagen Freunde.

Seyfried jedenfalls zog mit seiner Modelleisenbahnwelt in die Schweiz. Um ein Buch über Kreuzberg zu schreiben! „Herero, das war eine Zeitreise. Während ich schrieb, habe ich mich immer tiefer hineingearbeitet in diese Epoche, ich habe die Kolonisation quasi noch mal durcherlebt.“ Das Konstrukt eines Romans ähnelt dem Konstrukt einer Modelleisenbahn: Allmählich entsteht eine andere Welt. Jahrelang hat Seyfried in Archiven und in über 300 Büchern die Historie der Kolonisation recherchiert und sich zurückgetastet, neben die einmal real existierenden Personen fiktive gestellt.

Seyfried neues, zweites Buch geht in der Zeit nicht ganz so weit zurück. Es handelt von einer jüngeren Vergangenheit: den 70er-Jahren. „Der schwarze Stern der Tupamaros“ ist ein Roman aus dem „kurzen Sommer der Anarchie“, er erzählt von Revolte, Aufbruch und Vision, von Niederlagen, Untergrund und den drohenden Wolken des stürmischen deutschen Herbstes, im Dreieck zwischen München und Berlin-Kreuzberg. Er erzählt ein wenig aus dem realen Leben des Gerhard Seyfried. Kehrt Seyfried von der Schweiz zurück in die Schublade? Fred jedenfalls – so viel steht fest – zieht Mitte des Romans von München in die Kreuzberger Wrangelstraße.

Dabei hatte Seyfried – auch das steht fest – die Nase voll von Kreuzberg und Berlin. „Wenn ich wenigstens von meiner Arbeit hätte leben können!“ Stattdessen war er ständig mit der Miete im Rückstand. Er hat es zwanzig Jahre lang „ehrlich probiert“, von morgens bis abends gearbeitet, aber er hat nie einen Platz für eine Kolumne bekommen, nicht bei der taz und nicht bei der FAZ. Beim Stern sagte man ihm: „Ihre Sachen machen die Leute nachdenklich. Das muss nicht sein!“

Dabei war er einmal dabei, „richtig Karriere zu machen! Mit Frau und Auto und allem Drum und Dran!“ Da hat er in der Werbung gearbeitet und für eine Agentur in München Kaugummiverpackungen verziert. Wrigleys. Aber das war dem Soziologie- und Psychologiestudenten der 60er-Jahre dann politisch doch nicht korrekt genug. Weshalb er von heute auf morgen aufhörte mit dem Zeichnen für den Konsum. „Was – und das erzähle ich nicht gerne – die Agentur in den Ruin trieb!“ Seyfried selbst „landete auf der Matratze“ und arbeitete bei einer Art „anarchistischem Münchener Stadtmagazin“: dem Blatt. Nach dessen Vorbild entstanden später in Berlin die Stadtmagazine tip und zitty. Bis zur Nummer 100 war Seyfried dabei, obwohl „jede zweite Ausgabe von der Beschlagnahme bedroht war und ständig Hausdurchsuchungen stattfanden“. Damals entschloss er sich, die Polizei genauer ins Visier zu nehmen und zeichnerisch zu karikieren. Und weil beim etwas dilettantischen Kleben der maschinengeschriebenen Texte für die Druckvorlagen stets gewaltige Lücken entstanden, füllte Seyfried diese Freiräume mit seinen Zeichnungen. Daraus entstand 1978 sein erstes Buch: „Wo soll das alles enden?“

Es erschien, als Seyfried gerade in Amerika war. Er war 30 Jahre alt, und weil es seine erste Reise war, tat er den ganzen Flug über kein Auge zu. Eigentlich hatte er nach New York gewollt, aber die Stadt war ihm schon aus der Luft zu groß. Er traute sich nicht, das Flughafengelände zu verlassen, und nahm den nächsten Flug nach San Francisco, wo die Rip Off Press die legendären Freak-Brother-Comics produzierte. Der müde Transatlantikreisende klingelte bei den Kollegen, setzte sich aufs Sofa und schlief sofort ein. Die Amerikaner runzelten die Stirn, aber als sie dann Seyfrieds Buch im deutschen Buchladen ausliegen sahen, räumten sie für den deutschen Freak einen Tisch frei. Seyfried begann, für die Rip Off Press zu zeichnen.

Zurück in Berlin machte er sich einen Namen als „Bullenzeichner“. Dabei hat er nichts gegen Polizisten. Meistens jedenfalls nicht. Da kam einmal eine Frau und sagte, sie hätte gerne dieses Plakat von dem mit Touristen überschwemmten Ku’damm. Diese Touristen waren in Seyfrieds Vision Polizisten aller Herren Länder. Seyfried versprach, es ihr zu schicken, und in der Tür drehte sie sich noch einmal um: „Wissen Sie, ich trau mich ja gar nicht, es zu sagen: Aber mein Mann ist Polizist.“ Der Polizist traute sich einige Tage später persönlich zum Cartoonisten und überbrachte eine Flasche Sekt zum Dank. „Eigentlich wollte ich Ihnen ja einen Joint bringen, aber das hab ich mich dann doch nicht getraut!“

Er hat eben seine Fans, dieser Seyfried, in dunklen Kellern im Osten warfen sie seine Zeichnungen mit einem Projektor an die Wand, lasen sich die Sprechblasen vor und brachen in kollektives Gegröle aus. Seyfried ist Kult, Berlinkult. Einige seiner Bücher verkaufen sich seit zwanzig Jahren. „Das schmeichelt schon ein bisschen! Wenn ich jetzt noch davon leben könnte, dann wär ja auch alles paletti!“

So aber hält sich Seyfried mit verschiedenen Jobs über Wasser. Als Cartoonist, Autor, Plakatzeichner, Übersetzer, sogar als Webdesigner. Ja, irgendwie erfüllt dieser Seyfried eben doch das Klischee des Kreuzberger Prototypen, den er nicht verkörpern will: Er ist politisch, provokant, immer im Kampf.

Aber auch ein Träumer. So einer wie dieser Ettmann aus „Herero“. Oder Fred aus dem „Schwarzen Stern der Tupamaros“. Auch Seyfried hat, genau wie sein Ettmann, als Kind schon diese Fantasielandkarten gezeichnet, inspiriert von Robinsons Insel und Stevensons Romanen: „Pläne von Schatzinseln und tropischen Eilanden mit Buchten und Lagunen.“

Mag sein, dass vieles Zufall war im Leben, wie Seyfried manchmal erzählt. Aber dass aus dem kleinen Fantasielandkartenzeichner einmal ein Modelleisenbahner und später ein Cartoonist und Romancier wurde, das war kein Zufall. Und dass Seyfried nach einem Jahr in der Schweiz wieder „Heimweh nach Berlin“ bekam – auch das ist kein Zufall. Jetzt sucht er also wieder mal eine Wohnung. In Berlin. Die enge Schublade des Urkreuzbergers ist ja jetzt besetzt – von Herrn Lehmann.

„Der schwarze Stern der Tupamaros“. Eichborn Verlag, 19,90 Euro. Gerhard Seyfried liest heute Abend um 18 Uhr im KulturKaufhaus Dussmann, Friedrichstraße 90