Schöpfungsakt im Besteckkasten

Endlich ist der neue IKEA-Katalog erschienen – im Namen des möblierten Geistes

Nur dank IKEA ist das Chaos in der möblierten Welt gerade so eben beherrschbar

Während unsere Kirchen ausbluten, das Christentum darbt und der rechte Glaube überall versiegt, erobert eine neue Religion seit Jahren die Herzen, die Köpfe und vor allem die Wohnzimmer der Menschen, begleitet sie durchs Leben und hat für jedes Problem denkbar einfache Lösungen parat. Ihr Name: IKEA, ein Buchstabenkürzel, das für keinen Gekreuzigten mehr Reklame macht, sondern bedeutet: I-ch K-ann E-infach A-lles. In diesen Tagen ist der neue Katalog erschienen, in 130 Millionen Exemplaren und über 40 Ländern, eine Verbreitung, welche die der Bibel zwar noch nicht übersteigt, aber die aller anderen Hauptkonkurrenten. „Harry Potter“, der Koran, das „Kapital“ landen abgeschlagen auf den Plätzen. Und selbst wenn Günter Grass und Dieter Bohlen in eine WG zusammenziehen und ein Buch schreiben sollten – den Katalog, der in keiner Bestsellerliste steht, der kein Unterrichtsstoff ist und in keinem Literaturkanon auftaucht, erreichen sie nicht.

Viele Bilder, wenig Text auch in diesem Jahr, und die Bilder widmen sich wie immer den kleinen, meist unbeachteten Dingen des Lebens. Fotos wie die von ansonsten unter der Zimmerdecke vergessenen Gardinenstangen, fast unsichtbaren Handtuchhaken und oft schamhaft übersehenen Toilettenpapierhaltern zeigen: Die IKEA-Kosmologie ist ganz diesseitig und kennt kaum Tabus. Auffällig auch: IKEA ist eine Religion des Heims, des Raums, der Höhle, des Innen. Die Menschen aus der IKEA-Gemeinde müssen das Haus nie verlassen, und vor ihre Fenster hängen sie Jalousien, Stoffe, Rollos, um damit die Gefahren, die da draußen lauern, zu bannen.

Der Glutkern der IKEA-Religion ist die Dreifaltigkeit des Namens, des Werdens und des möblierten Geistes. Im Namen des Namens hat jeder Gegenstand des Katalogs und folglich auch der Einrichtung zu Haus einen eigenen Namen, als könnte er um Rat und Hilfe angesprochen werden. Sie heißen Billy oder Lekvik, Faktum oder Anton, Lampan oder Mammut. Hier mischt sich der Respekt vor der Welt der Dinge mit dem magischen Denken der Naturvölker. Im Namen des Werdens gibt es die meisten Produkte nur in Form ihrer Teile. Der Schöpfungsakt auch des unbedeutendsten Besteckkastens muss zu Hause nachvollzogen und eingeübt werden. Nichts ist, wie es ist – alles wird vor den eigenen Augen so, wie es in der beigelegten Genesis geschrieben steht. Übrig bleiben Pappkartonstapel, hoch wie das World Trade Center seligen Angedenkens.

Im Namen des möblierten Geistes aber mahnt uns der IKEA-Katalog: Auch der Mensch, insbesondere das Kind, ist nur ein Möbel in der ewigen Anordnung der Dinge im Wohnzimmer. Der Mensch ergänzt die Möbel funktionell, indem er etwa seinen Hintern in die Sofaecke einpasst. Er ist Partner der Möbel, indem er beispielsweise Schränke nur an den Stellen öffnet, die sie ihm anbieten. Und er ist naturgemäß selbst Möbel, indem er auf den Katalogfotos sich so geschickt zwischen, um und vor die Möbel placiert, als sei er ein Teil von ihnen, als gehöre er essentiell und substantiell dazu.

Das war keineswegs immer so, die IKEA-Religion ist eine dynamische. Wer den zehn Jahre alten Katalog von 1994 in die Hand nimmt, wird feststellen, dass Menschen hier nichts zu suchen hatten. Stehen gebliebene Tassen, ein gedeckter Tisch, eine Falte im Sitzkissen deuten die Heraufkunft des Menschen zwar schon an, zu besichtigen ist er aber nicht. Ein weiterer Unterschied: die Ordnung der Elemente. 1994 war das rechtwinklig-symmetrische Denken noch voll intakt, und die Spuren des Lebens konnten ihm noch nichts anhaben. Im aktuellen Buch hingegen liegt kaum etwas an seinem Platz, das Chaos bedroht die Autorität der Stellung der Tischchen und die Lage der Deckchen, und nur dank IKEA ist es gerade so eben beherrschbar.

Der neue Katalog, er ist auch ein Werk der Verheißung, der Utopie. Es gibt eine Welt, so sagt er uns, in der alles an dem Platz ist, an den es gehört. Es gibt eine Welt, die Platz für alles hat, sogar in kleinster Hütte. Und es gibt eine Welt, in der die Menschen, anstatt sich die Köpfe einzuschlagen, nebeneinander sitzen auf Sofas, vor denen lachende Kinder spielen. Ein Buch der Hoffnung, gerade auch in Tagen wie diesen. Erschienen ist der neue IKEA-Katalog in Hofheim im Taunus, er hat 366 Seiten und kostet: nichts. RAYK WIELAND