East meets West am Tokyo Tower

In Tokio zählt die berühmte japanische Höflichkeit ebenso zu den urbanen Notwendigkeiten wie die sekundengenaue Abfertigung der U-Bahn-Züge im 2-Minuten-Takt. Ein Streifzug durch das Gewirr der Gassen in der japanischen Hauptstadt

VON MARTIN HABLESREITER

Ist von Tokio die Rede, so assoziiert man hierzulande meist ameisenartige Menschenmassen, überfüllte U-Bahn-Züge, horrende Immobilienpreise und beengte Wohnverhältnisse. Hinter dem internationalen Image zwischen Schnelllebigkeit, Disziplin und Konsum verbirgt sich jedoch in Wahrheit ein spannungsreiches Konglomerat aus östlicher Tradition und westlichem Fortschritt.

Neben mehreren tausend Kanji-Schriftzeichen verwirrt in Japans Hauptstadt zunächst einmal die Dezentralität. Anders als in Paris, Rom oder Wien sucht der Tokio-Reisende vergeblich nach einem Zentrum, nach markanten Wahrzeichen oder Orientierungshilfen. Ein Straßenzug scheint dem anderen zu gleichen. Zwar überragt etwa der 1958 errichtete Tokyo Tower, eine Nachbildung des Pariser Eiffelturms, das Original um 11 Höhenmeter, doch im Gegensatz zu seinem französischen Vorbild verliert sich das stählerne Ungetüm in der Silhouette zahlreicher Hochhäuser.

Selbst genaue Adressangaben erleichtern die Orientierung nicht wesentlich, da nur Durchgangsstraßen einen Namen tragen. Die Nummerierung der einzelnen Gebäude folgt dem Errichtungsdatum und gibt somit keinerlei Auskunft über deren Lage. Doch wer suchet, der findet. Denn der Charme der auf den ersten Blick spröden Großstadt liegt im Verborgenen und offenbart sich nur jenen, die ihr Augenmerk auf unvorhersehbare Alltagsmomente und zufällige Begebenheiten richten.

Sich in Japan zu bewegen, ist wie eine Rückblende in längst vergangene Kindheitstage. Ohne Sprach- und Schriftkenntnisse darauf angewiesen, die Umgebung empirisch zu erkunden, aus einem Lächeln oder anderen Mimiken Erkenntnisse zu ziehen und nach dem „Trial and Error“-Prinzip Grenzen auszuloten. Dabei bleibt gerade im perfekt organisierten Tokio die Furcht, das (scheinbar) minutiös geplante Zusammenspiel der Massen durch unerwünschte Handlungen zu stören, ständig präsent. Im richtigen Moment die Schuhe abstreifen, mit dem Kopf nicken, eine Visitenkarte niemals in der Po-Tasche verschwinden lassen – viele Regeln sollte der aufmerksame Besucher im Hinterkopf behalten.

In Tokio zählt die berühmte japanische Höflichkeit ebenso zu den urbanen Notwendigkeiten wie die sekundengenaue Abfertigung der U-Bahn-Züge im 2-Minuten-Takt oder die berüchtigten Uniformierten, die mit weißen Handschuhen die Fahrgäste zur Rushhour vom Bahnsteig in die überfüllten Waggons quetschen. Zu den bemerkenswertesten logistischen Leistungen des Ballungsgebietes gehört nicht zuletzt aber auch die Belieferung der Menschenmassen mit frischen Lebensmitteln. Rund 30 Millionen Menschen, immerhin ein Viertel der japanischen Bevölkerung, wollen im Großraum Tokio nicht nur täglich vom Arbeitsplatz zum Wohnort gelangen und umgekehrt, sondern auch mit Essbarem versorgt sein.

Roh oder gekocht verspeisen die Inselbewohner bekanntlich am liebsten Fisch und Meeresfrüchte und liegen dabei mit einem Verzehr von 12 Millionen Tonnen pro Jahr unangefochten an der Weltspitze. Kein Wunder, dass ausgerechnet Tokio den größten Fischmarkt der Welt beherbergt, der zu den sehenswertesten Attraktionen der Hauptstadt zählt. In den riesigen Hallen des „Tokyo Central Wholesale Market“ in Tsukiji wechseln täglich ab 5.30 Uhr die kugeligen Körper des Blauflossen-Thunfisches tonnenweise ihre Besitzer. Unter hektischem Geschrei zersägen stämmige Fischhändler mit den typischen Stirnbändern anschließend das hellrote Fleisch der kopf- und schwanzlosen Thunfischleiber, als wäre es Styropor, bevor es von chaotisch auf und ab fahrenden Dieselkarren abtransportiert wird.

Ein Teil der Ware verschwindet sogleich in den umliegenden Sushi-Restaurants, die Hartgesottenen im Übrigen auch um 7 Uhr früh besonders ans Herz gelegt seien. Die Bewohner Tokios schwärmen von der unglaublichen Frische der rohen Fischstücke in Tsukiji, die hier schon im Morgengrauen auf der Speisekarte stehen und als die besten der Stadt gelten.

Sushi zum Frühstück, auf umgedrehten Bierkisten sitzend, direkt auf dem Gehsteig oder in einem winzigen Lokal nur durch einen dünnen Vorhang von den Passanten getrennt – auch das gehört zu den kleinen, aber feinen Alltagserlebnissen in den Straßen der Finanz- und Wirtschaftsmetropole. Und wie das Verhältnis der Japaner zu Tradition und Fortschritt ein ambivalentes zu sein scheint, so sind es auch die Umstände, unter denen sie ihre Mahlzeiten einnehmen. Vom fahrbaren Holzkarren bis zum Tatami-Separee im Luxusrestaurant eines Fünfsternehotels könnte die Palette an unterschiedlichen räumlichen, kulinarischen und finanziellen Rahmenbedingungen nicht größer sein. Wobei das Ambiente eines Restaurants nicht unbedingt etwas über dessen Qualität, wohl aber über seine Preise aussagt. Der vollendete Genuss einer Mahlzeit bedingt für die meisten Bewohner Tokios zuallererst perfekten Service und absolute Frische der angebotenen Speisen. Westler schaudern, wenn eine Dame im Kimono zu den niedrigen Tischen trippelt und Meerestiere nicht nur roh, sondern als besondere Spezialität auch noch lebend serviert.

Die Tokioter frönen allerdings nicht nur mit Vorliebe dem leiblichen Wohl, sondern auch der gepflegten Unterhaltung, und dazu gehört neben Shopping vor allen Dingen auch die japanische Variante des Gesangsvereins: Karaoke. Wagt man sich als „Gajin“, also als Langnase, in eines der unzähligen Etablissements, kommt man sicher nicht umhin, mindestens einen Song, wenn möglich auf Deutsch, zum Besten zu geben. Als ungeübter Europäer kann man natürlich leicht einen Tiefschlag erleben, wenn man neben Japanern auftritt, die ihren Song vorher gründlich einstudiert haben. Karaoke-Anlagen finden sich in Japans Hauptstadt nämlich nicht nur in Bars und Hotels, sondern zum Beispiel auch in Autos. Und da der Verkehr in Tokio oft ins Stocken gerät, vertreibt man sich die Wartezeit mit einigen Songs. Wie lächerlich wirkt da im Vergleich unser simples Autoradio.