Urteil über die letzten Schüsse

Politbüromitglieder zu 15 Monaten auf Bewährung verurteilt. Sie hätten „verdammt noch mal“ (Richter) die Pflicht gehabt, etwas gegen die Schüsse an der Mauer zu tun

BERLIN taz ■ Der letzte Schuss an der Mauer fiel vor 15 Jahren, das letzte Urteil gegen die Täter gestern. „Die drei jungen Männer, die ihr Leben ließen, nur weil sie in diesem Teil des Landes leben wollten, wären heute so alt wie vier der fünf urteilenden Richter“, sagte ihr Vorsitzender Thomas Groß. Damit wollte Groß zeigen, wie lange es dauerte, das Unrecht nach dem Systemwechsel juristisch aufzuarbeiten.

Das Landgericht hat die beiden Politbüromitglieder Hans-Joachim Böhme und Siegfried Lorenz zu 15 Monaten auf Bewährung bestraft, nach DDR-Strafrecht, dem milderen, das deswegen zu ihren Gunsten angewendet wurde. So lange müssten die beiden ins Gefängnis, wenn sie sich innerhalb des nächsten Jahres strafbar machen. „Ich halte es für ausgeschlossen, dass das der Fall sein wird“, sagte Richter Groß.

In dem Verfahren ging es nicht ums Strafen, sondern darum, noch ein letztes Mal per Urteil zu sagen, dass die Mauerschüsse Unrecht waren, hervorzuheben, dass die Verurteilungen nach der Wende damit richtig gewesen sind. „Dies war keine Siegerjustiz“, sagte der Richter, „nein, es ist ein ganz normaler Strafprozess gewesen.“

Aber dann begründete er das Urteil beinahe eine Stunde lang, sprach mit bewegter Stimme und zeigte, dass diese Verfahren eben doch etwas Besonderes waren. Denn kein Dieb und kein Steuerhinterzieher wird in seiner Urteilsbegründung über die vornehmlichste Aufgabe eines Staates hören – „die Bürger zu schützen“ – oder über die Pflicht, Widerstand zu leisten. Darum ging es gestern, weil sich auch der Bundesgerichtshof (BGH) schon zu dem Fall geäußert hat. Die Staatsanwaltschaft war in Revision gegangen, nachdem das Berliner Landgericht die beiden Angeklagten im Jahr 2000 freigesprochen hatte. Ungestraft waren die beiden damals aus dem Gericht gegangen, weil in diesem letzten Prozess erstmals verhandelt wurde, ob sich führende Politiker auch schuldig machen können, wenn sie nichts tun – anstatt etwas gegen die Mauerschüsse zu unternehmen. Die Angeklagten hatten das Gericht überzeugt, dass die drei Toten heute auch dann nicht leben würden, wenn sie etwas gegen den Schießbefehl getan hätten. Diese Meinung teilte der BGH nicht und verwies das Urteil zurück an das Landgericht.

„Niemand weiß, was passiert wäre, wenn die politisch denkenden Menschen im höchsten Machtgremium der DDR angefangen hätten, zu diskutieren“, sagte Richter Groß gestern dazu. Und: „Wenn die fälschlich so genannten kleinen Leute etwas bewegen konnten, dann hätten Sie das auch gekonnt.“ Und: „Es wäre verdammt noch mal ihre Pflicht gewesen, etwas zu ändern.“ Das Politbüromitglied Herbert Häber habe immerhin versucht, etwas gegen die Mauerschüsse zu unternehmen. Häber ist darum vor drei Monaten zwar schuldig gesprochen – aber nicht bestraft worden.

Der Verurteilte Lorenz fand das Urteil gestern nicht gerecht und beklagte, die Bewährungsstrafe kriminalisiere sein gesamtes politisches Tun. Zum Trost fielen ihm viele ergraute Sozialisten um den Hals. Auf dem Bürgersteig vor dem Gericht schimpften sie gemeinsam auf die Racherichter und lobten die DDR-Solidarität. Auch sie hatten gestern ihre letzte Gelegenheit dazu. MAREKE ADEN

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