Zahlenspiele mit der Not

Um Kosten zu sparen, sollen kranke, behinderte und alte Menschen weniger umsorgt werden. Berufsbetreuer warnen vor einer Rückkehr zum reinen Verwahrsystem. Einer von ihnen ist Gerd Lietz, der in Schleswig-Holstein 40 Schützlinge betreut

„Die neuen Zeiten sind so gering bemessen, dass Betreuer ihre Aufgabe künftig auf ein Minimum beschränken müssen“: Hamburger AG Betreuungsgesetz „Die Betreuung durch Angehörige ist äußerst gefährlich, weil diese emotional zu sehr verstrickt sind“: Therapeutin Sabine Christensen

Von EVA WEIKERT

Als Gerd Lietz das „Forsthaus“ in Bad Oldesloe betritt, trägt er einen Karton unterm Arm. Der Heimtrainer darin ist für Herbert Poll*. Der Rollstuhlfahrer lebt seit einem Jahr in dem Pflegeheim in Schleswig-Holstein. Vorher hatte er sich im eigenen Haus verbarrikadiert und den Kontakt nach Außen abgebrochen. „Ich hatte mich von der Welt verabschiedet“, erinnert sich der 55-Jährige, der nach elf Operationen gegen ein Krebsgeschwür im Kopf entstellt und fast erblindet ist.

Um die Isolation des Frührentners zu durchbrechen, setzte ein Gericht Lietz als Betreuer ein. Er besorgte den Heimplatz, klapperte mit Poll Kliniken ab, löste seine Sparverträge auf und bezahlte seine Schulden. Der Berufsbetreuer hat dafür 137 Stunden in sechs Monaten gebraucht.

Doch dieser Einsatz ist dem Gesetzgeber zu teuer. Die Bundesregierung will die Vergütung einer rechtlichen Betreuung nach Aufwand und Zeit durch eine Pauschale ersetzen. Gerade mal zwei Stunden pro Monat blieben für Poll nach dem neuen Betreuungsrecht (siehe Kasten), das Rot-Grün in diesem Jahr verabschieden will. „ Mit dem Limit kann ich die Not nur noch vom Schreibtisch aus verwalten“, sagt Lietz, der seinen Job als einen „Mix aus Sozialarbeit und Management“ beschreibt. In seinem Büro im schleswig-holsteinischen Bargteheide stehen bereits heute Akten über 40 aktuell Betreute aus dem Norden.

Wie alle Bundesländer hat auch Schleswig-Holstein vor allem ein finanzielles Interesse an der Reform des Betreuungsrechts und den Gesetzentwurf im Bundesrat mitgetragen. Allein 2003 gab das Kieler Justizministerium für die rechtliche Betreuung kranker, behinderter und alter Menschen 13 Millionen Euro aus. Die Fallpauschalierung soll jetzt Einsparungen bringen.

Doch auch in Justizkreisen gibt es Kritiker der neuen Vergütung: „Die erzielbaren Einkünfte sind für Berufsbetreuer nicht auskömmlich“, warnt etwa die Hamburger Landesarbeitsgemeinschaft (AG) Betreuungsgesetz, in der die Vormundschaftgerichte und die Hamburger Justizbehörde vertreten sind. Die Zeiten seien so gering bemessen, moniert die AG, dass Berufsbetreuer ihre Aufgabe „künftig auf ein Minimum beschränken müssen“.

Den Heimtrainer für Herbert Poll, der seine Beine kräftigen will, obwohl ihn die Ärzte längst aufgegeben haben, kann Lietz dann vergessen. Ebenso die zweistündige Autofahrt an die Küste, wohin er an diesem Augusttag nach dem Besuch bei Poll aufbricht. Ziel ist das Haus „Godewind“ bei Flensburg. In die 250 Kilometer entfernte Reha-Einrichtung für psychisch Kranke hat Lietz drei Schützlinge vermittelt, die aus seiner Gegend stammen. Der 54-jährige Diplom-Sozialwirt schätzt die offene 20-Plätze-Einrichtung für ihre familiäre Atmosphäre und die Arbeitstherapie in den Werkstätten. Auch hätten seine Betreuten, darunter zwei Ex-Junkies, „hier Abstand zur Familie und zur Szene“.

Kevin Runge steht schon vor dem Eingang, als Lietz noch seinen Wagen parkt. „Wir kennen uns ein Jahr und einen Monat“, weiß der 29-Jährige genau. Im Juni 2003 hatte Lietz den damals obdachlosen Junkie in Bad Oldesloe von der Straße aufgelesen. „Ich bin versackt und war ganz unten“, sagt Runge, bei dem die Drogensucht eine Psychose auslöste. Um ihn wieder aufzurichten, hat Lietz 63 Stunden im ersten halben Jahr seiner Betreuung benötigt, wie er seinem Vergütungsantrag entnimmt. Das ist zwar weniger Aufwand als für den krebskranken Poll, mit mehr als zehn Stunden monatlich Berlin aber noch zu viel. „Die geplante Pauschale setzt eine Krisennorm voraus“, rügt Lietz, „die es nicht gibt.“

Für den heutigen Besuch seines Betreuers hat sich Runge einen Zettel gemacht. Da steht drauf, was er mit ihm besprechen will: „Erwerbsminderungsrente, Behindertenausweis, Handy“. Aber der Zettel muss warten. Lietz will zunächst mit Einrichtungsleiterin Sabine Christensen über Runge reden und kassiert dafür einen enttäuschten Blick. „Manchmal übernehmen Betreuer auch eine Familienersatzfunktion“, erklärt Christensen, „und sind die Einzigen, die zu Besuch kommen.“

Als Lietz später Runge in dessen Zimmer aus Kiefernmöbeln gegenübersitzt, gibt es Tee für den Gast und auch der Fernseher wird auf seinen Wunsch hin ausgemacht. Nachdem der Zettel abgehakt ist, Runge 100 Euro fürs neue Handy quittiert und sich mit Lietz über seinen Haarschnitt beraten hat, bohrt der nach den Emotionen. Im Haus „Godewind“ fühle er sich „freier“ als zuvor in der geschlossenen Psychiatrie, sagt Runge, „wo wir in Zweibettzimmer keine Privatsphäre hatten und nur geduldet waren“. Irgendwann wolle er wieder eine eigene Wohnung anmieten und auch Geld verdienen, sagt der Stukkateur. „Lassen sie sich Zeit“, rät Lietz, bevor er sich mit den Worten „Rufen Sie an, wenn was ist!“ verabschiedet und zum Nachbarn geht.

Christian Treitz schickte im Juni einen Notruf. Lietz betreut den 41-Jährigen, der an Schizophrenie leidet, seit sechs Jahren und kennt es, wenn er wie kürzlich akut psychotisch und von Wahnvorstellungen gepeinigt ist. Damals hörte Treitz Stimmen, fühlte sich verfolgt und keiner kam mehr an ihn ran. Nur eben Lietz. „Anders als wir Therapeuten gehörte er als Außenstehender nicht in das Wahnsystem“, so „Godewind“-Leiterin Christensen.

Wäre Lietz dem Notruf nicht gefolgt, um den Kranken in die Klinik zu fahren, wäre dieser durch Polizei und Sanitäter dorthin verfrachtetet worden. „Eine Zwangseinweisung erfolgt meist nicht ohne Gewaltanwendung“, warnt Christensen und ist froh, Treitz „die Demütigung erspart zu haben“. Dem geht es wieder besser. Als Lietz ihn heute nach seiner Verfassung fragt, dreht er den Kopf zum Fenster, guckt ins Grün und sagt: „Kommen die Stimmen, setzte ich mich raus und es wird ruhig.“

Nach 30 Minuten und einem Händedruck zum Abschied, tritt Lietz vor eine dritte Zimmertür. Zwei Stunden ist er jetzt hier, macht brutto 62 Euro. Mit 31 Euro pro Stunde belohnt der Staat professionelle Betreuung. Dafür müssen die Helfer auch verbale oder gar körperliche Attacken riskieren. So auch Lietz, dem sein dritter Schützling im Haus „Godewind“ heute den Mittelfinger zeigt und ihn mit einem wütenden „Was willst du?“ abweist. „Der Gedanke, dass er mich mit seinem eigenen Vater verwechselt, den er kalt machen will“, so Lietz, „macht mir Angst.“

Um Kosten zu sparen, soll künftig nicht nur pauschaliert, sondern auch nahen Angehörigen automatisch die Vertretungsmacht übertragen werden können. Das kostet den Gesetzgeber dann gar kein Geld mehr. „Dabei ist die Betreuung durch Angehörige äußerst gefährlich“, rügt Therapeutin Christensen, „die sind emotional zu sehr verstrickt.“ Das aktuelle Recht sichere den Betroffenen „ein Höchstmaß an Selbstbestimmung zu“, warnt auch der Bundesverband der Berufsbetreuer, „die vorgesehene Vertretungsmacht durch Angehörige schränkt dieses Recht stark ein.“

Kommt die Novelle, erwägt Berufsbetreuer Lietz hinzuschmeißen. Durch die Pauschalvergütung drohten ihm 40 Prozent Erlöseinbußen. „Um das zu kompensieren, müsste ich ebenso viele zusätzliche Fälle übernehmen“, rechnet er vor, „das nimmt dem Beruf die Seele.“ Jetzt hofft Lietz auf Widerstand im Bundestag, der sich nach einer ersten Lesung im Frühjahr noch einmal nach der Sommerpause mit der Novelle befasst.

Herbert Poll ist dann längst umgezogen. Ziel ist das Pflegeheim „Haus Ingrid“, das näher am Stadtzentrum von Bad Oldesloe liegt. Vom „Haus Ingrid“ komme er eben „besser in die City“, zudem seien die Bewohner jünger, erklärt der 55-Jährige den Wechsel: „Dort ist es lebendiger.“

*Namen aller Betreuten geändert