ausgehen und rumstehen
: Jede Nacht ein soziales Ereignis: Milde Zufriedenheit im Industrial Garten und der Minibar

Ekstase und Euphorie mögen schöne Zustände sein. Wenn die Hitze aber wie ein Gift Sinnesorgane und Gliedmaßen gleichermaßen narkotisiert, dann ist Glück durch Ausgehen schwer herzustellen. Dieses Wochenende wollte alles ganz sachte.

Als Brücke in die guten Stunden bot sich ein Biergarten auf der Bergmannstraße an. Hier haben sich Susi Space und Peter Hall, wie sie in Anspielung auf ihren Plattenladen Spacehall in der Zossener Straße genannt werden möchten, ein riesiges Areal angemietet. Zur Flaniermeile Bergmannstraße hin öffnet sich das alte Reichelt, wo die beiden nun neben Schallplatten auch Kunst verkaufen möchten. Neben dem Ex-Supermarkt geht es durch Klinkerbauwerk hinein in den Hof. In seiner Improvisiertheit erinnert der „Industrial Garten“ – Peter Halls erste Leidenschaft waren EBM und eben Industrial – an die frühen Neunziger in Mitte. Alte Couchgarnituren, Tische vom Flohmarkt oder sonstwo her. Ein paar selbst gebastelte Palmen schmücken die Trash-Gemütlichkeit, durch Plastik-Glasspiele hindurch betritt man den hinteren Bereich.

Dort erklärt sich die Architektur von selbst: Ein beeindruckender Trafo-Mast zeugt von der Geschichte des Geländes. Als Umspannwerk hat es einmal der Bewag gehört. Da es heute unter Denkmalschutz steht, gestalten sich Umdeutungs- und Umbaumaßnahmen als extrem komplizierte Angelegenheit. Solange sich das Areal noch dem Verkauf sperrt, wird hier dafür sommers elektronische Musik über ein Soundsystem laufen. Und das ist sehr schön so: Man sitzt, studiert alte Industriearchitektur, schaut nach der lässigen Kreuzberger Klientel. Der Blick nach oben zeigt einen Ausschnitt Himmel, der wie erfunden wirkt.

Nur ein Stück weiter in Richtung Ost-Nordost, hin zur Graefestraße. Die Minibar ist mit der mystischen Hausnummer 77 gesegnet. 15 Quadratmeter Hauptraum, in dem der Tresen beinahe die Hälfte einnimmt, dazu das Hinterzimmer mit etwa sechs Quadratmetern – das ist wirklich mini! Jetzt im Sommer weitet sich die Bar nach draußen aus; pittoresk säumt sich eine Holzbank den Gehweg entlang. Vom DJ-Pult drinnen schallt die Musik heraus, jeden Freitag wird die Minibar zum Club, dem wahrscheinlich kleinsten der Stadt.

Hier wird nicht nur deshalb nicht auf Tischen getanzt, weil keine vorhanden sind – doch ein Club im Sinne des britischen Treffpunktes, das ist die Minibar ganz sicher: jede Nacht ein soziales Ereignis. Besonders gut hat man es vielleicht als DJ, denn wegen der Enge bekommt man Getränke einfach durchgereicht und hört den Leuten beim Fluchen und Loben zu, wenn ein neues Stück in den Mix gelangt – im Club selbst sind die Kommunikationswege dagegen länger und mittelbarer. Doch erwiesenermaßen ist die Minibar auch für weniger wichtige Personen als dem DJ ein super Ort für Zufallsbekanntschaften. Und was für Leute man da kennen lernt: Vom Leben enttäuschte Ex-Regisseure, ehemalige Duzfreunde Heiner Müllers, Menschen, deren Lebensgefährtinnen Gender-Querschnitsanalysen in Mali anstrengen und die selbst solange auf die gemeinsamen Kinder aufpassen. Sehr sympathisch wirkt auch der Theologiestudent, der mit allen Wassern der dekonstruktivistischen Theorie gewaschen ist, heute aber lieber Schrammelpop als Clickhouse hören möchte.

Das Betreiber-Trio hat die ganze Minibar in den Farben der Saison getaucht, in Rot und Weiß. Es ist wohl diese Liebe, mit der der Raum gestaltet ist, die sich nach und nach auch auf die Besucher überträgt. Spätestens dann, wenn trotz der noch immer großen Hitze endlich die Wogen milder Seligkeit plätschern und man sich im weichen Morgenlicht auf den Weg nach Hause macht.

CHRISTOPH BRAUN