Der Landgänger

„Olympia war der Grund, warum ich das alles überhaupt gemacht habe. Da wollte ich einfach hin“„Ich war einer der besten Sportler der Welt. Auf einmal musste ich von ganz unten neu anfangen“

AUS FRANKFURT AM MAIN JULIANE GRINGER

Eine Welle aus glänzendem Silber umschlingt den Ringfinger seiner linken Hand. Dirk Ulaszewski liebt Wasser, die Seen, die Flüsse, das Meer. Seine Haut ist braun gebrannt. Der hochgewachsene Mann ist viel draußen, fährt Fahrrad. Und ab und zu, erzählt er in rheinischem Akzent, geht er noch zu dieser Bootsstation unten am Main, wo sein Kanu im Fluss liegt. Das lange schmale Gefährt am Ufer steht für ein anderes Leben des Dirk Ulaszewski, ein Leben, in dem er Medaillen gewann, bei Olympia startete, sehr erfolgreich war.

Das alles ist eine Weile her. 1992, mit 28 Jahren, verabschiedete er sich aus dem aktiven Leistungssport. Auch heute, 12 Jahre später, kann er aber weder das eine noch das andere lassen: Sport machen und Erfolg wollen.

Irgendwann ist für alle aktiven Leistungssportler Schluss. Meist geht es sehr schnell, die Leistungen lassen nach oder eine Verletzung zerschlägt Pläne. Mit Ende 20, Anfang 30 stehen die Athleten dann am Ende ihrer ersten Karriere. Gerade mal eine Hand voll schafft es, bis ins Rentenalter hinein vom Sport zu leben. Nicht jeder wird Werbestar oder Co-Kommentator im Fernsehen. Die meisten müssen sich neu orientieren: beruflich und emotional.

Dirk Ulaszewski versucht es mit seiner eigenen Projektagentur „Sport & Business“. Heute sitzt er in einem Tonstudio im Frankfurter Stadtteil Sachsenhausen, wartet auf eine Frau namens Isa, Managerin von Pop-Sänger Fabrizio. Sehr modisch gekleidete Leute eilen umher. Sie sind jung, ihre Handys klingeln ständig. Sie essen Pizza vom Lieferservice oder Pasta mit Krabbensauce aus dem Supermarkt und führen Gespräche über neue Produktionen, Kollegen und wichtige Aufträge.

Der Ex-Leistungssportler mag sich nicht recht wohl fühlen hier. Das ist nicht seine Welt. Aber sie ist wichtig für ihn. Kontakte pflegen, für neue Projekte, neue Konzepte. Er redet immer von Konzepten, die seinen Ideen Form geben sollen. Das neuste: der Olympia-Song für Eurosport. Seine Idee. Dafür hat er den TV-Sender mit der Deutschen Sporthilfe und dem jungen Musiker Fabrizio zusammengebracht. Aufnahmen für die CD fanden auch hier in diesem Studio statt. „Power & Glory“ heißt das Stück. „Kraft & Ruhm“ – das eine braucht man im Sport, das andere will man erreichen.

Musik ist auch privat die zweite Leidenschaft von Ulaszewski. Er spielt Schlagzeug, lange in Bands, auch recht erfolgreich. Deswegen hat er das Gefühl, dass er sich „jetzt wieder selbstverwirklicht“ hat, mit der Musik. „Power & Glory“ könnte vielleicht ein Einstieg sein, demnächst auch wieder eigene Stücke zu schreiben und zu produzieren.

Bis es für Dirk Ulaszewski dieses neue Leben, ein Leben nach dem Sport, gab, hat es gedauert. Und es hat ihn viel Kraft gekostet. Umzuschalten von körperlichen Höchstleistungen auf Bücherwälzen, Vorlesungenbesuchen, Klausurenschreiben. Er ist gescheitert mit dem BWL-Studium, für das er sich schon am Anfang seiner Sportlerkarriere eingeschrieben hatte. Ein halbes Jahr hat er sich am Ende noch damit herumgequält, obwohl er eigentlich schon wusste, dass es nicht hinhauen würde. „Ich habe meine Scheine gezählt und es waren einfach zu wenige, um das Studium in absehbarer Zeit zu schaffen.“

Titel gesammelt hatte er zuvor genug. Über 30 Mal war Dirk Ulaszewski im Kanu westdeutscher Meister, 15 Mal Deutscher Vizemeister und 2 Mal gesamtdeutscher Meister. Natürlich war er auch bei Olympia. Er weiß, was die Spiele für einen Sportler bedeuten. Im 1.000-Meter-Einer hat er 1988 in Seoul als bester Deutscher den zehnten Platz erreicht, hinter den damals so starken Ostblock-Kanuten. „Das war eine Spitzenleistung“, sagt Ulaszewski noch immer voller Stolz.

„Olympia war überhaupt der Grund, warum ich das alles gemacht habe. Da wollte ich einfach hin“, erinnert er sich. Sicher, der Erfolg habe ihm schon Spaß gemacht. Aber er habe den Sport nie zu ernst genommen. Obwohl die Trainer es nicht gern sahen, gab es Wochenenden, an denen er von der Regatta gleich zum Gig seiner Band gefahren ist.

Den Entschluss zum Aufhören hat er ganz bewusst getroffen. „Ich hatte mir fest vorgenommen, das nicht zu spät zu tun.“ Olympia 1992 in Barcelona sollte sein letzter großer Auftritt werden. Nach einem Trainingslager in Australien flog er nur noch rasch zu einem Sponsorentermin nach Florida. Das war kurz vor der Qualifikation in Deutschland. Zu kurz vielleicht. „Ich hatte Jetlag und mir einen heftigen Schnupfen eingefangen“, erzählt er. Keine Chance mehr bei den entscheidenden Wettkämpfen, die Gegner paddelten ihm davon. „Das war aber völlig okay“, erinnert er sich. „Ich habe es auch als Zeichen gesehen, dass meine Entscheidung, jetzt aufzuhören, richtig war.“

Schluss mit Training, Sport nur noch für den Körper und als Ausgleich zu den schweren Gedanken, die Dirk Ulaszewski nun nicht mehr zur Ruhe kommen ließen. Es sei ein tiefes Loch gewesen, dem er nach dem Aus gegenüberstand. Ein Loch, gerissen durch die verlorene Aufgabe, durch das fehlende Training. Ein Loch, das er mit etwas Neuem füllen musste. Immerhin war Sport für ihn ein Fulltimejob mit dreimal Training täglich: morgens ab sechs Uhr zwei Stunden, dann von zehn bis zwölf und noch einmal 15 bis 20 Uhr.

Das neue Leben hatte keinen Beifall vorgesehen. Stattdessen mit Kommilitonen Abend für Abend rumhängen, Zeit vertrödeln, mit Bier in der Hand vor dem Fernseher – und nachdenken. „Ich war einer der besten Sportler der Welt gewesen und nun musste ich von ganz unten neu anfangen.“

Wenn Dirk Ulaszewski von dieser Zeit erzählt, wird er ernster. Es ist ein Teil seines Lebens, der ihm nicht so gefällt. Das abgebrochene BWL-Studium wird zu etwas, in dem er versagt hat. Er hat etwas angefangen und es nicht zu Ende gebracht. Das mag er nicht. „Es waren ein paar Scheißmonate“, sagt er. „Skurrilerweise war es aber auch schon wieder eine gute Zeit mit Freunden.“ Ein Freiraum, der noch nicht gefüllt war mit Projekten und Konzepten.

Vor ein paar Stunden hat Ulaszewski bei der Deutschen Sporthilfe einen Vertrag über die „Power & Glory“-CD abgeschlossen. Die Stiftung hat ihn, wie 3.800 andere Nachwuchssportler jährlich in Deutschland, während seiner aktiven Zeit gefördert. Sie hat ihren Sitz ein paar Straßen weiter in einem lichtdurchfluteten Stadthaus mit kleinem Garten. Gerd Klein, seit über 20 Jahren Geschäftsführer der Organisation, sitzt an einem runden Tisch mit Blick aufs Grün. Er schenkt Mineralwasser ein, das die Sporthilfe unterstützen soll. Ein Cent pro Flasche geht in die Förderung junger Athleten. Dass nicht jeder Sportler in solch ein Loch falle, erklärt er. „Es gibt genug Unterstützung und Fördermöglichkeiten, auch für die Zeit nach dem Sport.“ Die Sporthilfe hat einen Club für Ehemalige gegründet, „emadeus“. Auch Dirk Ulaszewski ist Mitglied.

Aus dem C-Kader geben etwa 1.000 jährlich auf, was ihnen bis dahin fast alles bedeutet hat – den Leistungssport. Seit einiger Zeit gibt es bei den Olympiastützpunkten Laufbahnberater, die den Sportlern helfen sollen, über die Sportkarriere die Karriere im „normalen Leben“ nicht aus den Augen zu verlieren. Sie vermitteln zwischen Trainern, Athleten, Schulen und Arbeitgebern, suchen sportfreundliche Ausbildungsmöglichkeiten und Wohnungen in deren Nähe. Sie sind eine Reaktion darauf, dass dieses Problem in den letzten Jahren zugenommen hat.

Unter Leistungssportlern hieß es früher noch im Scherz, nach dem Ende der Karriere würde man einfach eine Lottoannahmestelle aufmachen. Viele von ihnen haben das auch tatsächlich getan, wie die beiden 54er-Fußball-Nationalspieler Max Morlock und Werner Liebrich. Und sie haben damals lange nicht so viel verdient wie Spitzenfußballer heute. Doch selbst die haben nicht automatisch ausgesorgt. Rund ein Viertel von ihnen hat nach dem Aus sogar mehr Schulden als Vermögen, ist unselbständig und schafft den Weg in den Alltag nicht, weil mit viel Geld eben einiges einfacher ging. Andere Athleten erledigen neben der Sportkarriere noch ein Medizinstudium und gehen dann direkt in die Klinik. Auch Jobs im PR-Bereich sind sehr beliebt, mit dem kommen Sportler ja oft in Kontakt.

Besonders ihr Alter macht den Aussteigern zu schaffen. Das Leistungssportalter steigt – dank neuer Möglichkeiten in Medizin und Training. Der Berufseinstieg wird dann aber immer schwieriger. Sportler müssen auf persönliche Kompetenzen setzen, die sie sich im Sport angeeignet haben.

„Teamfähigkeit, Durchhaltevermögen, Leistungs- und Risikobereitschaft“ zählt Dirk Ulaszewski zu diesen Kompetenzen, die man im Sport lernt und die viele Arbeitgeber schätzen. Sogar fehlende Berufserfahrung kann das mitunter ausbügeln. Auch der ehemalige Kanute hat diesen Kompetenzen wahrscheinlich einen Einstieg in den Beruf zu verdanken. Nach einem halben Jahr Grübeln bewarb sich Ulaszewski für eine Doppel-Ausbildung zum Industriekaufmann und Unix-Systembetreuer bei Siemens-Nixdorf, schaffte es durch das harte Auswahlverfahren unter die besten zwanzig. Danach begann eine kleine Karriere im Innendienst bei IBM, wo er trotz fehlendem Studienabschluss angenommen wurde.

Ein paar Stationen weiter juckte es ihn wieder in den Fingern und er machte sich 2002 selbständig mit seiner Agentur „Sport & Business“. Dirk Ulaszewski ist einer, den man rastlos nennen könnte. „Ich habe immer Flausen im Kopf, will Neues ausprobieren und sehen, ob ich das schaffe.“ Deshalb will er sich irgendwann eine Villa kaufen, ein kleines Hotel eröffnen, am Meer, vielleicht in Spanien, der Heimat seiner Frau Ana Ulla. „Ohne Wasser kann ich nicht lange sein. In spätestens zehn Jahren bin ich hier weg“, sagt Ulaszewski. Er plant schon wieder sein Leben weiter. Das Leben nach dem Leistungssport.