Schweigen statt reden?

PsychologInnen streiten darüber, ob und wie traumatisierte PatientInnen behandelt werden sollen. Ohne Therapie sind chronische Persönlichkeitsstörungen die Folge, sagen die einen. Verdrängen sei besser als abzuarbeiten, erwidern die anderen

von GUDRUN FISCHER

Letzte Woche lief in der ARD ein Dokumentarfilm mit dem Titel „Multiple Persönlichkeit – Wahn der Therapeuten?“. Darin wurde der Fall einer Frau dokumentiert, die sagt, ihre Diagnose Dissoziative Identitätsstörung (DIS, früher hieß es MPS, Multiple Persönlichkeitsspaltung) sei falsch gewesen. Der Film zweifelt die gesamte Existenz der Krankheit DIS an. Das hat für Aufruhr unter Therapeutinnen und Therapeuten gesorgt.

„Dieser Film ist einseitig“, sagt die Psychologin Sabine Müller vom Verein Vielfalt aus Bremen. Der Verein setzt sich für Menschen ein, die von organisierter – sexueller oder ritueller – Gewalt traumatisiert wurden. „Der Film, gibt nicht im Geringsten den Stand der Traumaforschung wieder.“ Auch wenn die Frau im Film möglicherweise falsch behandelt wurde, heißt das noch lange nicht, dass DIS bei anderen nicht auftritt. „Wenn bei einer Frau fälschlich Brustkrebs diagnostiziert wird, heißt das doch auch nicht, Brustkrebs existiert nicht“, sagt Müller.

Wissenschaftliche Untersuchungen haben belegt, dass Traumafolgen an Gehirnen gewissermaßen ablesbar sind. Bildgebungsverfahren zeigen, dass gewisse Hirnregionen traumatisierter Menschen anders aussehen als die von nichttraumatisierten Menschen. Denn bei einer extremen Stressreaktion fällt der Hippocampus, wo das bewusste Erinnern gespeichert ist, das Sprachzentrum und das Frontalhirn fast vollständig aus, und das für die Emotionen zuständige Amygdala-System übernimmt. Mittels der Kernspintomografie konnte nachgewiesen werden, dass die rechte Hirnhälfte, also der Ort, wo das Amygdala-System lokalisiert ist, bei PatientInnen viel stärker durchblutet wird, während sie sich an ihr Trauma erinnern.

Was genau ist nun ein Trauma? Es wird von einem oder mehreren schrecklichen Ereignissen hervorgerufen, die über das hinausgehen, was ein Mensch allein verarbeiten kann. Das kann ein Erdbeben sein, oder der Tod eines Angehörigen, das kann sexuelle Gewalt, Folter, oder Krieg sein. Die traumatisierte Person steht während des Ereignisses Todesangst aus.

Neben der Frage, ob DIS existiert, bezweifeln einige Fachleute auch, dass eine traumabedingte Störung überhaupt behandelt werden müsse. Nach Meinung der Psychologin Sabine Finster aus Köln, spezialisiert auf Traumatisierung nach sexueller Gewalt, kann jedoch ohne Bearbeitung des Traumas auf Dauer eine chronische Störung mit Persönlichkeitsänderung erfolgen. Vergessen und Verdrängen kann besser sein, als „immer wieder an den Abgrund geführt zu werden“, sagen die anderen. George Bonanno von der Columbia-Universität in New York behauptet, dass es langfristig das Beste für die Patienten sei, die tragischen Momente ihres Lebens zu ignorieren. Es sei besser, zu schweigen statt zu reden, zu verdrängen statt zu bearbeiten.

Welcher Ansatz ist nun der bessere? Keiner von beiden, behauptet Sabine Müller. Sie meint, dass niemand anderes als die betroffene Person entscheiden müsse, ob und wann sie sich ihrer Traumatisierung zuwendet.

„Ein Trauma geht immer über den Willen und die Kräfte eines Menschen hinweg. Das darf danach nicht mehr passieren“, betont sie. Ob aber eine Mutter mit zwei kleinen Kindern entscheidet, dass der Zeitpunkt nicht passt, sollte ihr überlassen bleiben. Müller vermutet jedoch, dass alle Menschen, die ein Trauma erlebt haben, davon belastet bleiben. Doch sie gibt zu, das sie und ihre Kolleginnen mit einem von Menschen konstruierten System von Diagnosen arbeiten. „Wir wissen nicht, wie viele Menschen sich mit ihren Einschränkungen einrichten, wie viele nachts Albträume haben oder von ihren Erinnerungen überflutet werden und damit nirgendwohin gehen.“

Bei manchen Menschen sei die Selbstheilungskraft hoch. Diese Kräfte hängen auch mit der Sicherheit zusammen, die die Umgebung den traumatisierten Menschen bietet. „Stellen Sie sich ein Kind vor, dass auf dem Schulweg einen sexuellen Übergriff erfährt. Es kommt nach Hause, erzählt sofort, was passiert ist. Die Eltern glauben dem Kind, trösten es, erklären ihm, dass es nicht daran Schuld ist und leiten Maßnahmen zu seinem Schutz ein.“ Dieses Kind wird ein wesentlich geringeres Trauma zurückbehalten als eines, das beispielsweise vom Patenonkel missbraucht wurde und unter Androhung von Gewalt jahrelang geschwiegen hat.

Die Psychotraumatische Belastungsstörung (PTBS) wurde erst 1980 in den internationalen Diagnosekatalog (DSM) aufgenommen. PTBS entwickeln etwa ein Viertel der Menschen, die einen Unfall erlebt oder mit angesehen haben, die entführt wurden oder einen Krieg erlebt haben. Sexuelle und anderer Gewalt können genauso Ursache eines PTBS sein. Nach einem derartigen Ereignis fühlen sich die Menschen hilflos, verlieren ihr Selbstvertrauen, haben Wutattacken oder schämen sich. Um wiederkehrende Erinnerungsfetzen zu verhindern, meiden Menschen mit einem PTBS Orte und Worte, die mit dem Ereignis zu tun haben – wenn sie denn wissen, was die Auslöser sind.

„Stellen Sie sich eine Frau vor, die von einem Mann mit Bart vergewaltigt wurde. Sie geht Jahre später auf der Straße und bekommt unverhofft Panikattacken, Ekelgefühle und Todesangst. Sie kann diese Gefühle nicht kontrollieren.“ Vielleicht hat sie gerade auf der Straße einen dem Vergewaltiger ähnlichen Mann mit Bart gesehen. „Das läuft im Unbewussten ab“, sagt Sabine Müller.

Manche traumatisierte Menschen haben Erinnerungslücken, leiden unter Schreckhaftigkeit, Schlafstörungen und Konzentrationsschwächen. Manche fühlen sich wie taub, ihre Gefühle sind weg, sie werden depressiv. Ein besonders starkes Symptom ist die Dissoziation, das „sich nicht im Körper fühlen“ oder das „Neben-sich-Stehen“. Bei der Dissoziation werden das Ereignis und die dazugehörigen Gefühle voneinander gespalten.

Eine psychotherapeutische Behandlung von TraumapatientInnen verläuft in drei Phasen: Die erste Phase ist die Stabilisierungsphase. Dann kommt die Bearbeitungsphase, die immer wieder von Stabilisierung begleitet werden kann. Als Letztes erfolgt die Integration. Eine der neuesten Methoden, deren Wirkung durchschlagend, aber noch nicht im Detail nachvollziehbar ist, ist die EMDR-Therapie (Eye Movement Desensitization and Reprocessing). Bei der in den USA entwickelten Methode unterstützen schnelle Augenbewegungen das Gehirn bei der Angstbewältigung. Die Patientin durchlebt erneut die Horrorerlebnisse mit allen Emotionen und Gedanken. Zugleich folgt sie mit den Augen der sich hin und her bewegenden Hand der Therapeutin. Diese Bewegungen beschleunigen den Verarbeitungsprozess im Gehirn. Allmählich verblassen die Bilder – und am Ende verlieren sie ihre Macht über die Psyche.

Eine Hypothese ist, dass über die Augenbewegungen die Bilder weniger lebhaft werden, da das visuelle Zentrum des Ultrakurzzeitgedächtnisses in seiner Funktion unterbrochen wird. Ein wichtiger Punkt bei dieser Methode ist die abwechselnde Aktivierung beider Gehirnhälften durch bilaterale Stimulation. Neben den Augenbewegungen sind das akustische Reize und Fingerberührungen. Die Erfinderin dieser Technik ist Francine Shapiro aus Palo Alto in den USA. Ihre spektakulären Erfolgsberichte lagen Ende der 80er-Jahre vor.

Die Psychologin Sabine Finster bevorzugt die sanftere Schule der Traumabearbeitung. Sie hält die EMDR-Methode, die an einem Wochenende erlernt werden kann, oftmals für zu wenig eingebettet. „Ich persönlich finde das EMDR nicht so gut, aber es bewirkt wirklich etwas“, sagt sie. Eventuell hilft die EMDR-Methode besonders bei monotraumatischen Ereignissen. Bei einer chronischen Traumatisierung, die über viele Jahre erfolgt ist, kann das EMDR tiefer liegende Erinnerungen heraufholen und unbearbeitet lassen.

Sabine Finster arbeitet lieber mit der so genannten Screening-Methode. Da wird mit Imaginationen gearbeitet. Die Patientin lässt das traumatische Ereignis vor ihrem inneren Auge wie ein Film ablaufen, stellt sich aber vor, sie habe eine Fernbedienung in der Hand und kann jederzeit den Film stoppen, schneller weiterspulen oder sich eine Sequenz in Ruhe ansehen. Die TherapeutIn begleitet den Prozess und stellt sicher, dass die Distanz und Kontrolle gewahrt bleiben. So wird das Trauma in die Erinnerung integriert.

„In der modernen Traumatherapie werden mehrere Methoden kombiniert, so wie es in der feministisch orientierten Therapie schon Usus ist.“ Da werden auch Musiktherapie und Entspannungstechniken benutzt. „So werden während der Traumatherapie im Gehirn neue neuronale Verbindungen geknüpft.“ Sabine Finster hält insbesondere die Stabilisierungsphase für wichtig. „Das ist gewissermaßen ein bewusstes Verdrängen“, sagt sie. „Danach schließt sich ein gelenktes Verarbeiten an.“