Trügerische Trägheit

Trotz eines 2:1-Sieges gegen Gladbach hagelt es bei Hertha Selbstkritik. Unscheinbar, aber gefährlich spielten die Berliner diesmal nur eine Hälfte

AUS BERLIN KATRIN WEBER-KLÜVER

So schnell kann das gehen. Die alte Hertha, Jahre über Jahre Synonym für einfallsloses Bundesliga-Mittelmaß, hatte gerade in ihrer laufenden Jungbrunnensaison das neunte Ligaheimspiel in Serie gewonnen, hatte sich die Tabellenspitze erobert, zurückerobert muss man sagen. Hertha kannte das Gefühl, ganz oben zu stehen, ja nun schon.

Aber: Da war keiner hochfliegend begeistert. Nein, es hagelte Selbstkritik. Man hätte fast meinen können, die Partie gegen Tabellenschlusslicht Borussia Mönchengladbach sei nicht 2:1 gewonnen, sondern sang- und klanglos verloren worden. „Wir müssen intelligenter spielen“, meckerte Verteidiger Josip Simunic. „Wir haben verpasst, Konter zu setzen“, sinnierte Außenverteidiger Marc Stein, „Wir haben in der zweiten Halbzeit aufgehört, Fußball zu spielen“, ergänzte Manager Dieter Hoeneß. Und Trainer Lucien Favre, ach, er sah Arbeit, Arbeit, Arbeit vor sich: „Wir haben noch viel zu tun – die Ballverluste, die Ballannahme!“

Gegen nur eine dieser Einschätzungen war etwas einzuwenden, nämlich die mit den Kontern. Ansonsten: Was soll man sagen? Mit dem Niveau der Spiele und Ergebnisse ändern sich auch Niveau der Ansprüche und Selbstanalyse. Sicher war es eine größere Schwächung für die Gäste, dass sie auf ihren Defensivstabilisator, den Libero Tomas Galasek, verzichten mussten. Und so passierte in der ersten Halbzeit, was im Olympiastadion oft passiert: Die Gastgeber legten eine hypereffektive Partie hin und schossen zwei Tore.

Nach dem 0:2 zur Pause trieb Gladbach der Mut der mangelnden Alternative zum Angriff. Und so lobte Favre Gladbachs Offensive in Teil zwei des Spiels als „extrem gefährlich“ und ergänzte, was er immer sagt, wenn er Spiele Revue passieren lässt: „Das war keine Überraschung für mich.“ Mit der Einwechslung des auch im reifen Stürmeralter von 35 Jahren noch sehr schnellen und umtriebigen Oliver Neuville begann Gladbach, der Hertha-Abwehr ihre eingeübte Selbstsicherheit auszutreiben. Gladbach spielte nun gut mit.

Wobei das mit dem Mitspielen bei einer Partie gegen Hertha so eine Sache ist. Hertha spielt ja nicht in dem Sinne, dass die Mannschaft ein Spiel gestalterisch dominiert. Hertha wartet ab, wie eine Spinne, die Spielminute um Spielminute ein unsichtbares Netz der Ereignislosigkeit spinnt, und wenn der arme kleine oder auch – wie zuletzt Bayern München – große Gast mal nicht aufpasst, verheddert er sich in diesem Netzwerk vorgetäuschter Trägheit. Dann kommt plötzlich ein Steilpass, in diesem Fall ein exzellenter von Cicero, und dann steht Andrei Voronin allein und bereit, schon fällt ein Berliner Tor.

Es war ein schönes 1:0 in der 28. Minute. Hertha-Spiele sind oft von schläfriger Atmosphäre geprägt, die Momente, in denen die Mannschaft zuschlägt, entschädigen dafür fast. Das 2:0 beglückte vor allem Pal Dardai, dem Patrick Ebert mit einem Pass in den Lauf die Vorlage zu einem schnellen, trockenen Abschluss gab. Das war kurz vor der Pause. Und das Ende des Spinnenkonzepts.

Als Mönchengladbach mehr Aktivität entwickelte, sich der alte Neuville, der junge Marko Marin und Co. spielerisch in Szene setzen, meist etwas ungestüm uneffektiv, verlor Hertha ihre Coolness. Vor allem, was die Möglichkeiten betraf, gegen eine notgedrungen stürmerische Mannschaft klug mit Kontern zuzuschlagen. Es war nicht so, wie Stein sagte, dass die Berliner keine Konter hatten, sie verspielten sie nur allesamt. Sowohl vor Gladbachs Anschluss durch einen von Arne Friedrich verschuldeten Foulelfmeter, den Michael Bradley verwandelte (69.), als auch danach, als sich die Spielsituation ja nicht verändert, sondern nur zugespitzt hatte. Weshalb auch die Einschätzung des Gladbacher Trainers nur halb überzeugen konnte. Hans Meyer sagte, es habe „Cleverness gegen jugendlichen Leichtsinn“ gespielt. Clever war Hertha nur die ersten 45 Minuten. „Es war wichtig, einen Sieg zu erheischen“, sagte Favre. Die alte Spinne Hertha muss nur aufpassen, nicht vor lauter Erfolg wirklich träge zu werden, sondern nimmersatt zu bleiben.