Fazl Ahmed und das Gottesurteil

Afghanistans oberste Richter können sich partout nicht daran erinnern, jemals per Fatwa die Hinrichtung von Journalisten wegen Warlordschelte empfohlen zu haben. Schließlich kriegt das Land bald eine Verfassung, und da macht man so was nicht

„Wenn der Islam perfekt ist, warum benehmen sich seine Anhänger schlecht?“

aus Kabul PETER BÖHM

Fazl Ahmed Manawi, der stellvertretende Vorsitzende des Obersten Gerichtshofes, kann gar nicht glauben, was er da hören muss. Die Scharia-Abteilung seines Gerichtes soll eine Fatwa, ein religiös begründetes Urteil, erlassen haben, das dem Kabuler Stadtgericht die Todesstrafe für zwei der Gotteslästerung angeklagte Journalisten empfahl. Das sei eine Fehlinformation, sagt er entschieden und grinst dabei so breit in seinen Rauschebart, wie das sonst nur ein Lausbub könnte, der sich gerne eines Streiches rühmen würde, den er eigentlich nicht zugeben darf.

Vor drei Wochen hat der Leiter der Scharia-Abteilung seines Gerichtes besagte Fatwa noch ausgiebig gegenüber einem Journalisten kommentiert. Kein Fall zeigt so gut wie das Verfahren gegen Hussein Medawi, den Chefredakteur der Kabuler Wochenzeitung Aftab, und seinen Stellvertreter Ali Reza Pajam, wie tief die Gräben in der afghanischen Regierung zwischen den islamistischen Hardlinern um die ehemaligen Mudschaheddin und den prowestlichen Reformern um den Präsidenten Hamid Karsai sind. Der Fall erscheint wie eine letzte Machtprobe vor der großen Schlacht um die kontroverseste Frage der neuen afghanischen Verfassung: Werden sich die Hardliner mit ihrer Forderung durchsetzen, dass das islamische Recht Scharia die oberste Rechtsordnung im Lande ist?

Die neue Verfassung wird im September veröffentlicht, und eine Loja-Dschirga-Versammlung wird im Oktober darüber abstimmen. Aftab war eine kleine Zeitung mit sechs Seiten, kaum über die Grenzen der Hauptstadt hinaus bekannt. Im März erinnerte die Zeitung in einer Serie von Artikeln über bekannte Warlords daran, dass sie nach dem Sturz der prokommunistischen Nadschibullah-Regierung Anfang der 90er-Jahre untereinander um die Macht in Kabul kämpften und rund 50.000 Menschen dabei umkamen. Doch erst ein Artikel mit der Überschrift „Heiliger Faschismus“ führte Mitte Juni zur Verhaftung der beiden Chefredakteure wegen Gotteslästerung. Wieder wurden darin namentlich Mudschaheddin-Führer wie Expräsident Barnahudin Rabbini beschuldigt, Verbrechen im Namen des Islam begangen zu haben. „Wenn der Islam eine perfekte Religion ist und das endgültige Gesetz auf Erden, warum benehmen sich dann viele seiner Anhänger so schlecht?“ fragte der Artikel.

Der Vorsitzende des Obersten Gerichtshofes, Fazl Hadi Schinwari, war die treibende Kraft hinter Medawis Verhaftung. Er ist ein bekannter islamischer Geistlicher ohne jegliche Ausbildung in säkularem Recht und hat gute Verbindungen zu Rabbani und vielen anderen Warlords. Schon im Januar erregte er mit dem Verbot des Satellitenfernsehens Aufsehen. In den in Afghanistan beliebten indischen Spielfilmen würden zu viele leicht bekleidete Frauen gezeigt, begründete er damals seine Entscheidung. Weil die Festnahme Medawis jedoch einen Aufschrei in den internationalen Medien auslöste, intervenierte Präsident Karsai und ordnete die Freilassung der beiden an. Trotzdem müssten sie sich vor Gericht verantworten, sagte er auf einer Pressekonferenz. Und um Zeit zu gewinnen, beauftragte er die niedrigste Instanz, das Kabuler Stadtgericht, mit dem Verfahren.

Damit war der Oberste Gerichtshof nicht mehr zuständig, aber noch gaben seine Richter nicht auf. Mitte Juli schickte der Gerichtshof eine Fatwa, ohne sie öffentlich zu machen, an das Kabuler Stadtgericht, mit der Empfehlung, die beiden Journalisten hinzurichten. Ein lokaler Journalist, der für eine internationale Nachrichtenorganisation arbeitet, konnte sie einsehen und zitierte daraus. Daraufhin vermeldete die Menschenrechtsorganisation Reporter ohne Grenzen vorschnell, Medawi und sein Stellvertreter seien zum Tode verurteilt worden. Wieder musste Karsai eingreifen. „Er hat damit gedroht, dass er diesmal Schinwari entlassen wird, sollte der die Fatwa nicht zurücknehmen“, sagt ein Beobachter, der eng mit der Materie vertraut ist, aber ungenannt bleiben möchte.

So bleibt das Verfahren gegen die beiden Aftab-Journalisten nominell bestehen, aber der Oberste Gerichtshof behauptet, die Fatwa an das Stadtgericht habe es nie gegeben. Die Auseinandersetzung jedoch um die künftige Rolle des Islam in Afghanistan ist nur vertagt. Der stellvertretende Informationsminister Chalil Menawi, ein erklärter Reformer, sagt, die Frage nach dem Status der Scharia sei so strittig, dass sie in dem im September zu veröffentlichenden Verfassungsentwurf offen gelassen werden soll. Das verspricht ein heftiges Ringen auf der Loja Dschirga, bei dem die Hardliner sicher nicht leer ausgehen werden.