Das Kreuz mit den Wörtern

„Alle Argumente, warumich nicht lesen und schreiben lerne, haben sich in Rauch aufgelöst“

von JÖRN KABISCH

Herr Raich hat seine Brille vergessen, seit vierzig Jahren passiert ihm das ständig. Man darf annehmen: beinahe täglich. Man darf aber auch annehmen, dass er gar keine hat. Jedenfalls gehört der Satz „Ich muss meine Brille zu Hause liegen gelassen haben“ zu seinem festen Repertoire. Herr Raich trägt ihn auch auf Wunsch vor, und es klingt tatsächlich, als hätte er gerade vergebens seine Brusttasche abgeklopft auf der Suche nach den Gläsern.

Felix Raich ist 63 Jahre alt, eben in Rente gegangen und Analphabet. Bis vor drei Monaten habe niemand gewusst, dass er niemals richtig lesen und schreiben gelernt hat, sagt er – und weil er über dieses Geheimnis noch ein wenig Kontrolle behalten will, bittet er auch, seinen richtigen Namen nicht zu nennen und ihn nicht zu fotografieren. Außer seinen Mitschülern, den Lehrern und Betreuern beim Alphabetisierungskurs des Berliner Arbeitskreises für Orientierung und Bildung (AOB) weiß niemand etwas über sein schwieriges Verhältnis zur Schrift.

Noch weniger wissen von dem Doppelleben, das Felix Raich seit seiner Schulzeit führt. Der Brillentrick ist nur ein Stein der Mauer, die er zwischen diesen beiden Existenzen errichtet hat, der als Analphabet und der als Familienvater, Speditionsschlosser und Fernfahrer. Wenn er davon erzählt, ist Stolz zu spüren. Aber auch, dass der Mann mit den weißen Haaren und der sonoren Berliner Stimme lange Zeit brauchte, um sich die Gemütsruhe zu erarbeiten, mit der er auf sein Leben blickt.

Etwa als er von seiner Schulzeit erzählt. Da ist viel von Verrat die Rede. „Das war Verrat am Kind, Verrat an den Schülern, Verrat an der Sippe“, fasst er zusammen. 1945 wurde er eingeschult. „In eine Hilfsschule in Reinickendorf“, sagt Raich, „der Lehrer war Pensionär. Aber nach dem Krieg gab es nichts anderes.“ Der Vater war im Krieg gefallen, der älteste Sohn sollte mitarbeiten, statt zur Schule zu gehen. „Ich bin von meiner Mutter nicht genug gefördert worden“, sagt Raich noch, dann drängen sich wieder die Begriffe „Verrat“, „Vertrauensbruch“, „Spießrutenlauf“ in seine Worte, die Erzählung bricht ab.

Felix Raich ist damals schnell abgeschrieben worden, also hat auch er diese Zeit abgeschrieben: „Ich kann mich an meine Kindheit nicht erinnern.“ An was er sich erinnert, ist seine Mutter, die sagt: „Du kannst es nicht, weil du nicht willst.“ Ist eine Situation im Mathematikunterricht, in der er nicht wusste, was ein Viertel ist, und dafür von Lehrern und Mitschülern verhöhnt wurde. Ist der spätere Befehl seiner Mutter an die ganze Familie – ihn und seine zwei jüngeren Geschwister –, darüber zu schweigen, dass der Junge lesen und schreiben nicht richtig gelernt hat. Vielleicht weil sich Felix Raich bis heute daran hält, sagt er noch einmal: „Verrat am Kind, am Schüler und an der Sippe!“

Ute Jaehn-Niesert, Psychologin und Geschäftsführerin der AOB, hört demütigende Schulgeschichten wie die von Felix Raich andauernd. „Legasthenie oder Lese-Rechtschreib-Schwäche – die Diagnose sitzt, wenn ein Kind so etwas in der Schule oder von den Eltern von sich zu hören bekommt“, sagt sie und meint damit nicht nur die Altersklasse von Felix Raich, sondern die Hauptklientel der Alphabetisierungskurse: bislang zwischen 20 und 30 Jahren alt, „aber es wir immer jünger“.

Wie viele Analphabeten es in Deutschland gibt, ist unklar. Die letzte Erhebung fand 1912 statt – damals genügte es, seinen Namen schreiben zu können, um als alphabetisiert zu gelten. Seitdem gab es offiziell in Deutschland keine Analphabeten mehr. Erst seit den späten Siebzigerjahren wurde man auf eine beträchtliche Anzahl von Menschen aufmerksam, deren Schriftsprachkenntnisse trotz Schulbildung so ungenügend waren, dass sie im Arbeitsleben scheiterten. Der Terminus „Funktionaler Analphabet“ entstand. Seit der Pisa-Studie setzen die Experten deren Zahlen höher an. Mindestens 6,3 Prozent der Menschen in Deutschland, also nicht unter 4 Millionen, schätzt etwa Sven Nickel vom Bundesverband Alphabetisierung in Münster als funktionale Analphabeten ein.

Gründe für die ungenauen Zahlen sind das gesellschaftliche Tabu und die Stigmatisierung, die diese Menschen von der Schulzeit an erleben und die dazu führt, dass sie den Mangel verschleiern, verbergen oder kompensieren. Felix Raich ist dafür das beste Beispiel. Er hat zu oft erlebt, dass ihm Menschen, wenn sie doch entdeckten, dass er beim Lesen und Schreiben Schwierigkeiten hatte, sagten: „Na, dann machen Sie da unten mal Ihre drei Kreuze.“ Dabei kann er seinen Namen selbstverständlich schreiben.

Irgendwie bekam er nach zehn Jahren einen Schulabschluss und begann 1955 eine Lehre als Fahrzeugbauer. „Bei der Gesellenprüfung bekam ich im praktischen Teil eine Eins, im theoretischen eine Sechs“, erzählt er. Erst mal durchgefallen. Fortan verlegte er sich auf das Auswendiglernen. Denn lesen und schreiben konnte Raich zwar schon in Grundzügen, aber es fiel ihm sehr schwer. Also prägte er sich das Lösungsmuster der Kreuze auf Fragebögen ein oder malte Antworten so lange ab, bis er sie praktisch blindlings an der richtigen Stelle einsetzen konnte. Er erzählt vom theoretischen Test für den Gefahrgutführerschein, den er als Fernfahrer noch vor einigen Jahren gemacht hat. Als der Prüfer die Ergebnisse bekannt gab, sagte er: „Fünfmal ein Fehler, zweimal zwei und einmal drei Fehler“, und las die Namen der Leute mit den Fehlern vor. „Als ich nicht bei denen mit ein oder zwei Fehlern auftauchte“, erzählt Raich, „war ich sicher, ich bin durchgefallen. Aber dann nannte der Prüfer einen ganz anderen Namen.“ Der alte Herr legt eine viel sagende Sprechpause ein.

Ihre Klienten, bestätigt Ute Jaehn-Niesert vom AOB, verfügten meist über ein „Riesengedächtnis“, allerdings eins, das sich nicht für Schrift einsetzen lasse. Vielfach würden Wörter nur erkannt, weil die Schriftbilder auswendig gelernt wurden. So wie sich der Fernfahrer Raich seine Routenziele immer wieder auf Zettel schrieb, um sie auf den Straßenschildern erkennen zu können. Vielfach hätten diese Menschen große Fantasie entwickelt, Lese- oder Schreibsituationen zu entgehen, erzählt Jaehn-Niesert weiter. Brillentricks wie der von Felix Raich seien inzwischen so bekannt, dass manche sie gar nicht mehr verwendeten. Die Psychologin berichtet von Analphabeten, die sich vor einem Ämtergang den Arm in Gips legten.

Felix Raich hat versucht, Formulare immer mit nach Hause zu nehmen und sie dort mit Hilfe von Kopien anderer Formulare auszufüllen. Dann kopierte er auch das neue Formular. „War dann auf dem Amt was falsch, bin ich dreist geworden und hab den Sachbearbeiter angeschnauzt: Dann füll du doch den Schein aus!“

Doch kaum jemand schafft es so lange, als funktionaler Analphabet zu bestehen, wie Raich. Soll man ihm glauben, dass er sein Geheimnis auch vor seiner Frau und den zwei Kindern schützen konnte? „In meinem Beruf kommt man seltener oder spät nach Hause“, sagt er so leichthin, als würde er gerade seine fehlende Brille entdecken. Raich lebt heute getrennt. Und er hat es fast immer geschafft, sich eine neue Arbeit zu besorgen, wenn „ich in einem Betrieb so lange war, dass ich aufsteigen und einen Schreibtischjob bekommen sollte“. In einer Arbeitswelt, die inzwischen fast ausnahmslos von Computern bestimmt wird, ist der Brillentrick sinnlos.

Woran Felix Raich sich erinnert, ist seine Mutter, die sagt: „Du kannst es nicht, weil du nicht willst“

Schon vor ein paar Jahren hat Felix Raich einen TV-Spot des Alfa-Telefons (s. Kasten) gesehen, aber erst vor drei Monaten angerufen. Dort hat man ihn an den Berliner Bildungsträger verwiesen. Dass er heute noch einmal versucht, schreiben und lesen zu lernen, hat einen Grund. „Ganz einfach: Ich brauche es nicht mehr“, sagt Raich. Und es scheint, als hätte ihm genau diese Überlegung geholfen, sich zu überwinden, wieder zur Schule zu gehen. „Alle Argumente, warum ich es nicht tue, haben sich in Rauch aufgelöst.“ Auch die Angst vor den Noten, die Angst vor einem strengen Lehrer, die Angst, zu versagen.

Denn all das ist beim AOB tabu. „Da gibt’s keinen Verrat“, wie Felix Raich sagt. Wo die Schule schon beim Lesen und Schreiben versagt hat, hat sie Menschen hinterlassen, die zugleich große Lernschwierigkeiten haben. Deshalb ist beim AOB eine psychologische Beratung vorgeschaltet. Die Kurse sind ein Angebot, kein Muss. Mit jedem Teilnehmer werden Etappenziele abgemacht, statt Noten gibt es Zielvereinbarungsgespräche. „Es geht darum, Verantwortung zu übernehmen“, sagt Ute Jaehn-Niesert.

Dem AOB geht es aber auch darum, den Klienten die Welt des Schreibens zu eröffnen. Kreatives Schreiben wird deshalb schon Anfängern angeboten. „Viele Leute haben riesige Geschichten im Kopf“, so Jaehn-Niesert.

Auch Raich mag diese Übungen. „Fehler werden nie korrigiert, sondern am Rand angestrichen“, erzählt er. Dass er den Fehler mit dem Duden in der Hand selbst suchen muss, spornt ihn an, auch wenn das schon mal über eine Stunde für nur einen Fehler gedauert hat.

„Ich tue was für mein Selbstwertgefühl“, sagt Felix Raich. Er hat sich entschlossen, sein Geheimnis zu bewahren. Freunden und Bekannten hat er erzählt, er mache einen Kurs in neuer Rechtschreibung; jetzt im Ruhestand habe er ja Zeit für so etwas. Auf die Frage, ob er sein Geheimnis denn wirklich nie lüften wolle, grinst der weißhaarige Mann. Und dann sagt er: „Noch kann ich zu keinem sagen: Du bist ein Idiot.“