Der liberale Teil des Zwillingspaares

Wolfgang J. Mommsen, Spross einer Historikerdynastie, war gegenüber Staat und Markt gleichermaßen skeptisch

„Die sozial-liberale Koalition lebt“, schrieb der Soziologe Rainer Lepsius zum 70. Geburtstag der Zwillinge Hans und Wolfgang Mommsen. Der liberale Teil dieser Koalition hätte den heutigen Liberalen eine Menge zu sagen. Gegenwärtig verliere der Mythos, dass „Wachstum alle politischen und gesellschaftlichen Probleme lösen könne, seine Zauberkraft“. 1973 prophezeite Wolfgang Mommsen deshalb: „Die Politik tritt wieder in ihr angestammtes Recht ein.“

Der Historiker Wolfgang Mommsen hat meist mit gestochen scharfen Analysen geglänzt. Zu Bismarcks 100. Todestag mahnte er 1998, die Marktwirtschaft sei nicht in der Lage, „soziale Not und Deprivation von Teilen der Bevölkerung wirklich auf Dauer zu verhindern“. Bismarcks Weg, das solidarische Handeln der gesellschaftlichen Gruppen mit indirekten Mitteln zu erzwingen, sei „immer noch der richtige“.

Wolfgang Mommsen sah als Kind die Marburger Synagoge brennen, er lernte in der Hitlerjugend, wie langweilig staatliche Bevormundung auf Dauer ist, und er sah, wie sein Vater Wilhelm Mommsen seine Geschichtsprofessur in Marburg wegen seiner NS-Verstrickung 1945 für immer verlor. So schnell wie möglich verließ Wolfgang Mommsen Marburg, „um nicht als Sohn meines Vaters herumlaufen zu müssen“. Das alles prägte seine „grundsätzlich linksliberale individualistische Grundposition, die gegenüber dem Staat in gewisser Weise skeptisch ist“.

Dass der Vater die Berufswahl seiner Söhne missbilligt hätte, ist eine gern kolportierte Ente. Er war im Gegenteil die unsichtbare Hand, die den Zwillingen den Weg ausgerechnet zu jenen Lehrern wies, die bereits vor 1945 die Wende von der Politik- zur Sozialgeschichte eingeleitet hatten – allerdings mit den zweifelhaften Mitteln der Volksgeschichte und Volkstumsforschung: Hans Rothfels mit seinen Schülern Theodor Schieder und Werner Conze.

Bei Schieder setzte Wolfgang Mommsen mit einer Arbeit über „Max Weber und die deutsche Politik“ 1959 früh ein Ausrufezeichen. Ungewöhnlich für einen linksliberalen Historiker war seine Kritik an der These von der deutschen Alleinschuld am Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Von 1977 bis 1985 leitete Wolfgang Mommsen das Deutsche Historische Institut in London. Im so genannten Historikerstreit kritisierte er die Erwartung von Teilen der Öffentlichkeit, Deutschlands Historiker sollten „wieder zu einem heileren Geschichtsbild zurückfinden“.

Wolfgang Mommsen hat zahlreiche Standardwerke zur Geschichte des Imperialismus geschrieben, unter anderem den Band „Das Ringen um den nationalen Staat“ in der Propyläen Geschichte Deutschlands. Zuletzt war er in Düsseldorf mit der Herausgabe der Max-Weber-Gesamtausgabe beschäftigt. Im FAZ-Fragebogen beantwortete er 1991 die Frage, wie er sterben möchte: „Möglichst plötzlich und ohne Vorwarnung.“ So ist es am Mittwoch an der Ostsee geschehen. PETER KÖPF