Scherben statt Pokale

Die Tradition bei Waterford Crystal reiche bis 1783 zurück, prahlt das Unternehmen. Zwar haben George und William Penrose in jenem Jahr tatsächlich die Flint Glass Works in Waterford gegründet, aber 1851 war die Firma pleite. Erst 1947 wurde Waterford Crystal neu gegründet. 1986 übernahm man die von Josiah Wedgwood (Foto) im 18. Jahrhundert gegründete englische Porzellanmanufaktur Wedgwood. 1990 kaufte der frühere Rugbyspieler Anthony O’Reilly, Irlands erster Milliardär, 29,9 Prozent des Unternehmens, seit 2005 besitzt er 51 Prozent. 1997 kaufte das Unternehmen Teile von Rosenthal, 1998 stockte es den Anteil auf über 90 Prozent auf. Der Niedergang ist nicht mehr aufzuhalten, obwohl zwischen 2001 und 2003 ein Drittel der Jobs gestrichen wurde. Am 5. Januar 2009 meldet das Unternehmen Konkurs an, am 27. Februar kauft KPS Capital aus New York Teile der Gruppe. Rosenthal ist nicht darunter, die bayerische Firma ist auf der Suche nach einem Käufer.

AUS WATERFORD RALF SOTSCHECK

Die schweren, verzierten Kronleuchter aus Bleikristall könnten in einem viktorianischen Landsitz hängen. Aber Liam O’Rourke wohnt in einem kleinen Reihenhaus in Waterford im Südosten Irlands. Auf den Bücherregalen zu beiden Seiten des Kamins stehen dicht gedrängt Pokale, Vasen und Teller aus Kristallglas. Der 57-Jährige war Glasschleifer bei Waterford Crystal, seit Jahrhunderten Aushängeschild der irischen Industrie. Am 5. Januar schloss der Konkursverwalter die Fabrik.

O’Rourke hat nichts anderes als Glasschleifen gelernt, im Sommer hätte er 40-jähriges Dienstjubiläum gefeiert. „Es fing 1969 mit einem Job in den Sommerferien an“, sagt er. „Ich bin geblieben.“ Sein Sohn hat 13 Jahre in der Fabrik gearbeitet, bis er vor fünf Monaten entlassen wurde. „Zu unseren besten Zeiten arbeiteten hier 3.500 Leute“, sagt O’Rourke. „Zum Schluss waren es noch 800.“

Die wollen die Schließung nicht hinnehmen. „An jenem Freitagmittag um zwei kam die Nachricht, dass der Laden geschlossen wird“, erzählt O’Rourke. In der großen Fabrikationshalle, die nur einen Steinwurf von seinem Haus entfernt liegt, zeigt er auf das breite Fließband – auf dem Boden am Ende des Bandes liegt ein Haufen Glasscherben. „Wir wurden so plötzlich hinausgeworfen, dass niemand mehr Zeit hatte, die Stücke vom Band zu nehmen.“ Etwa 200 Leute waren zu dem Zeitpunkt in der Fabrik. „Der lokale Radiosender berichtete pausenlos über die Schließung“, sagt O’Rourke. „Das war ein Aufruf an die restlichen Arbeiter, so schnell wie möglich zu kommen.“ Sie besetzten das Besucherzentrum von Waterford Crystal, die wichtigste Touristenattraktion im Südosten Irlands – 300.000 Besucher kamen jedes Jahr. Der Konkursverwalter schickte Sicherheitspersonal, um das Besucherzentrum zu räumen. „Einer von ihnen rutschte aus und fiel in die gläserne Eingangstür“, sagt O’Rourke mit todernster Miene. „Danach ließen sie uns in Ruhe.“ Die Arbeiter kontrollieren seitdem die beiden Tore, damit niemand die Maschinen abbauen und wegschaffen kann. Lediglich bereits bestellte Ware darf abgeholt werden.

Die Eingangstür, in die der Sicherheitsmann stürzte, ist mit einer Holzplatte notdürftig repariert. Das Café neben der Eingangshalle ist voll, viele Arbeiter haben ihre Familien mitgebracht, zwischen den Resopaltischen rennen Kinder umher. Zwei Frauen hinter dem Tresen schenken Kaffee und Tee aus, es gibt belegte Brote und Kekse. „Alles Spenden der Menschen von Waterford“, sagt O’Rourke. „Sie haben uns sogar eine Dartscheibe und zwei Fernseher geschenkt, damit es uns nicht langweilig wird. Den Billardtisch haben wir allerdings verlost, damit die Leute nicht denken, dass wir es hier zu gemütlich haben.“

Ein Bettenhaus hat Matratzen und Schlafsäcke gestiftet, denn die Fabrik ist rund um die Uhr in vier Schichten besetzt. Tagsüber werden die Böden gewischt und die Toiletten gereinigt, denn es kommen immer noch Touristen. Ein junges Pärchen aus Kalifornien weiß nichts von der Schließung der Fabrik, das steht in ihrem Reiseführer noch nicht drin. Sie schauen sich den Film über die Geschichte der Fabrik an, trinken einen Kaffee und tragen sich in die Solidaritätsliste ein. Dass die irische Wirtschaft seit vorigem Herbst rasant eingebrochen ist, war ihnen ebenfalls unbekannt. In ihrem Reiseführer ist noch vom „keltischen Tiger“ die Rede.

„Unsere Fabrik war profitabel, aber das Geld floss zu Rosenthal und Wedgwood“

Die Zeiten, in denen Irland hohe Wachstumsraten verzeichnete, sind vorbei. Im Jahr 2000 waren es 9,9 Prozent, danach immerhin noch gut fünf Prozent. Niedrige Körperschaftsteuern und Löhne und gut ausgebildete, englischsprachige Arbeitskräfte hatten US-amerikanische Konzerne wie Microsoft, Google, Intel, Pfizer und IBM seit den Achtzigerjahren angelockt. Das ehemalige Armenhaus Europas entwickelte sich zu einem der reichsten Länder der Welt, 2006 hatten die Iren nach den Luxemburgern das höchste Pro-Kopf-Einkommen in der EU. Doch im Herbst vorigen Jahres war Irland das erste EU-Land, das in die Rezession schlitterte, angestoßen von der Baubranche.

Ein Drittel aller Privathäuser wurde in den vergangenen zehn Jahren gebaut, die Immobilienpreise stiegen in diesem Zeitraum um 270 Prozent. Die Bauindustrie trug ein Viertel zur Wertschöpfung des Landes bei und beschäftigte 13 Prozent aller Arbeitskräfte. Im vorigen Jahr platzte die Immobilienblase – die Baubranche verzeichnete Einbußen von 80 Prozent. „Niedrige Lohnsteuersätze und eine hohe Steuer beim Immobilienkauf haben den Staatshaushalt übermäßig vom overdrive des Bauwesens abhängig gemacht“, sagt der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler Trutz Haase. „Diese Rechnung geht beim plötzlichen Stillstand auf dem Wohnungsmarkt nicht mehr auf. Dennoch weigert sich die Regierung beharrlich höhere Steuersätze, insbesondere für die Besserverdienenden, einzuführen.“ Dafür sei Fianna Fáil, die regierende republikanische Partei Irlands, zu sehr mit den Interessen der Bauindustrie und der Banken verbunden.

Dadurch ist die Kluft zwischen Armen und Reichen kontinuierlich gewachsen. „Wenn man Immobilien ausnimmt, besitzt ein Prozent der Bevölkerung ein Drittel des Reichtums“, sagt der Wirtschaftskommentator Fintan O’Toole. Obwohl Irland beim durchschnittlichen Pro-Kopf-Einkommen mit 43.260 Euro im Jahr 2007 weit vor Deutschland mit 29.464 Euro lag, wies es die höchste Armut der gesamten EU auf. 22,7 Prozent der Iren leben in Armut – drei Prozent mehr als 1998. Mehr als ein Drittel bekommt nur den Mindestlohn von 8,65 Euro in der Stunde. Im westirischen Limerick, der ärmsten der fünf irischen Großstädte, ist die Arbeitslosigkeit in den vergangenen zwölf Monaten um 70 Prozent gestiegen. Die Stadt war 1990 aufgeblüht, als sich der Computerhersteller Dell ansiedelte. Er wurde zum zweitgrößten Arbeitgeber Irlands. Am 8. Januar, drei Tage nach der Schließung von Waterford Crystal, gab Dell seinen Umzug nach Polen bekannt, wo die Löhne ein Drittel niedriger sind. 1.900 Menschen wurden entlassen, mindestens 6.000 weitere Jobs werden bei den Zulieferern verloren gehen.

Auf den plötzlichen Niedergang war in Irland kaum jemand vorbereitet. Vorvergangenen Samstag demonstrierten 120.000 Menschen in Dublin gegen die Regierung und die Banken. In der ersten Reihe marschierten die Arbeiter von Waterford Crystal. „Unsere Fabrik war bis zum Schluss profitabel“, sagt O’Rourke. „Aber das Geld wurde in die vielen Unternehmen gesteckt, die wir aufgekauft haben, wie Wedgwood, Rosenthal und Royal Doulton.“ Aber Porzellan und Kristallglas gehören einer anderen Zeit an. Bis vor 20 Jahren heiratete in Irland kein Paar, ohne dass es von der Verwandtschaft mit Schalen und Gläsern von Waterford Crystal beschenkt wurde. „Die Kristallglasindustrie ist traumatisiert“, sagt Declan Fearnon, Direktor bei der Konkurrenz Tipperary Crystal. „Der Markt hat sich verändert, die Kundschaft bevorzugt heutzutage einfaches Glas.“

Als kurz vor Weihnachten Produkte von Waterford Crystal im Billigsupermarkt Dunnes zwischen Plastikspielsachen aus China und Unterhemden aus Indien verramscht wurden, hatte das durchaus symbolischen Charakter. Es gab nur zwei Produkte zur Auswahl: Aschenbecher und Briefbeschwerer – beides Produkte der Vergangenheit. Irland hat das strikteste Rauchverbot Europas, und Briefe werden heutzutage elektronisch geschrieben. Wie zum Trotz halten die Fabrikbesetzer in Waterford den Schmelzofen in Gang. Das bei 1.300 Grad geschmolzene Rohglas läuft in einen Behälter, von wo es zurück in den Ofen geleitet wird. Der ständige Kreislauf sei notwendig, sagt Tom Power, denn wenn man den Ofen abschaltete, würde er zusammenstürzen, sieben Millionen Euro wären verloren.

„In Irland besitzt ein Prozent der Bevölkerung ein Drittel des Reichtums, 22 Prozent leben in Armut“

Der 55-jährige Power arbeitet seit 40 Jahren bei Waterford Crystal, zum Schluss war er für Pokale und Trophäen zuständig. Die Duplikate stehen in dem Ausstellungsraum: der Super Bowl, der Pokal vom Golfturnier Pebbles Beach, ein Cowboyhut aus Glas. „Den haben wir als Geschenk für Larry Hagman angefertigt, als er die Fabrik besichtigte“, sagt Power. Auch das Duplikat der großen Kristallkugel, die Waterford Crystal zur Jahrtausendwendfeier für den Times Square in New York anfertigte, kann besichtigt werden.

Aus New York erhofft man sich nun auch die Rettung. Am Freitag kam die Nachricht, dass KPS Capital die Firma Waterford Wedgwood übernehmen wird – eine Heuschreckenfirma, befürchtet O’Rourke. „Sie haben keine Jobgarantie gegeben“, sagt er. „Wahrscheinlich wollen sie nur unseren guten Namen, um dann in Osteuropa minderwertige Ware herstellen zu lassen.“ Die Fabrik bleibt vorerst besetzt.

„Es ist das beste Kristallglas der Welt“, sagt Power. „Unsere Produkte stehen in Westminster, im Buckingham-Palast und im Weißen Haus in Washington.“ Seit Jahrzehnten fährt der irische Premierminister zum St. Patrick’s Day, dem irischen Nationalfeiertag, in die USA und überreicht dem US-Präsidenten eine Kristallglasschale, gefüllt mit dreiblättrigen Kleeblättern, mit denen der heilige Patrick den Heiden die Dreifaltigkeit erklärt haben soll. Die Schale, die Barack Obama in zwei Wochen erhält, könnte die letzte aus Waterford sein.