Nachts in Norrköping

Die deutschen Basketballer spielen nach dem 71:93 gegen Litauen heute um den Einzug ins Viertelfinale

NORRKÖPING taz ■ Es war spät nachts, als sich Henrik Dettmann doch noch entschied, sich auch der allerletzten Sorge zu entledigen. Noch einmal schlurfte der Bundestrainer über den roten Läufer des Grand Hotels und klopfte an die Zimmertür seines Sorgenkindes. Erst eine Stunde später sollte Dettmann wieder aus dem Zimmer kommen, um endlich schlafen zu gehen. Kräftig ins Gewissen geredet hatte er Misan Nikagbatse, dem Paradiesvogel und verhinderten Genie unter Deutschlands Basketballern. Leistung müsse der 21-Jährige endlich bei der Basketball-Europameisterschaft in Schweden zeigen, sich im Team zurechtfinden.

Gestern, im dritten Vorrundenspiel der Deutschen gegen Litauen, war der kleine Point Guard denn auch höchst motiviert. Auf seine orangenen Schuhe hatte er sich mit einem Edding-Stift die Frage „Do you believe?“ gekritzelt und sich ein grelles Stirnband auf den Kopf gesetzt. Doch wieder schaffte es Nikagbatse nicht zu überzeugen, anders als tags zuvor beim 94:86 gegen Lettland traf dies aber auf die gesamte Mannschaft zu. Gegen ein hevorragendes und vor allem aus der Distanz extrem treffsicheres litauisches Team gab es eine deutliche 71:93-Niederlage. Während Litauen nun als Gruppenerster direkt ins Viertelfinale einzieht, müssen sich die Deutschen heute abend gegen den Sieger des gestrigen Matches zwischen Bosnien-Herzegowina und Italien (nach Redaktionsschluss) für die Runde der letzten Acht qualifizieren.

Eine spielerische Steigerung wird dazu nötig sein, denn nur gegen Lettland präsentierte sich die DBB-Auswahl in Norrköping, einer ostschwedischen Fabrikstadt, bisher phasenweise in guter Form. Gleich im ersten Spiel war dagegen der Trainer vom eigenen Team Lügen gestraft worden. „Siege sind wie Parfüm“, hatte Dettmann noch kurz vor dem Turnier verkündet. Nach dem Auftaktsieg gegen Israel zog er allerdings ein Gesicht, als hätten sich sämtliche Toilettentüren in der Arena gleichzeitig geöffnet. Mit 86:81 hatte man sich gegen die schwachen Israelis durchgemogelt. Der Unmut war entsprechend groß. „Wenn es so weitergeht, können wir gleich nach Hause fahren“, erzürnte sich Kapitän Patrick Femerling. Dirk Nowitzki, ein Schatten seiner selbst, polterte: „Diese Vorstellung war fast peinlich.“ Über Nacht hatten sie dann kleine Sit-ins im edlen Grand Hotel am Deutschen Platz veranstaltet. Und siehe da, als hätte eine schwedische Nachtfee sie plötzlich wach geküsst, wurden die Deutschen gegen starke Letten erstmals ihrer Favoritenrolle gerecht.

Dennoch wollte sich in der kleinen Himmelsundtalshallen, die abseits der Stadt in grünen Auen versteckt liegt, noch immer kein Wohlgefallen einstellen. Nowitzki zeigt sich, obwohl Topscorer der Deutschen, „noch nicht zufrieden mit meiner Leistung“. Auch Marko Pesic sah noch längst nicht das Optimum erreicht: „Wenn Dirk und Ademola richtig fit sind, geht es erst richtig ab.“ Nowitzki leidet noch etwas unter seiner Verletzung am Sprunggelenk, Okulaja an seiner Kapselverletzung am linken Fuß.

Die Vorsicht war berechtigt, wie das Spiel gegen Litauen zeigte, in dem Nowitzki 19 Punkte schaffte, die Defensive aber vor allem den überragenden Saulius Stombergas (28 Punkte) immer wieder frei zum Wurf kommen ließ. Litauen gehört sicher zu den besten Teams dieser EM, eine Leistung wie gegen Israel wäre heute aber wohl schon das Ende aller Titelträume. Den Unterschied könnte dabei der kleine Spieler mit dem blondierten Afro ausmachen. Wenn Misan Nikagbatse, wie er es bei der letztjährigen WM demonstriert hat, seine athletischen Fähigkeiten einsetzt und vor allem sein mitunter wirres Spiel unter Kontrolle bringt, könnte er zum entscheidenden Faktor werden und sein unorthodoxes Spielverständnis manch anderen Favoriten ins Stolpern bringen.

Seine Teamkameraden wissen um die mögliche große Rolle des kleinen Mannes. Deshalb muntern sie den verunsicherten Nikagbatse unentwegt auf. Niemand hat ihm seine Verunsicherung auf dem Parkett bisher übel genommen. Findet Nikagbatse jetzt zur seiner Form, ist seine verkorkste Vorrunde schnell vergessen. Ab jetzt riecht jeder Sieg wie Parfüm. Egal, was vorher geschah. CHRISTOPH BERTLING