„Was ist nur in ihn gefahren?“

Auf den Anschlag auf Hamas-Führer Jassin reagiert Gaza mit offenem Zorn über den israelischen Premier Scharon, Tel Aviv mit Kopfschütteln

GAZA taz ■ Die Bombardierung war wenige hundert Meter vom Einschlagsort kaum zu hören. Nur wenige Sekunden dauerte der Angriff der israelischen F-16-Flieger auf den Chef der Hamas. Scheich Achmed Jassin, Gründer der islamisch-fundamentalistischen Widerstandsorganisation, hatte eben ein Treffen mit politischen und militanten Köpfen der Hamas verlassen, als die Raketen die beiden obersten Stockwerke des Hauses zerstörten. Mit nur leichten Verletzungen an der Hand entkam der bis zum Kopf gelähmte Scheich dem Mordanschlag im Anschluss an einen Moscheebesuch. Dafür werden „die Israelis einen schmerzlichen Preis bezahlen“, drohte er wenig später und erklärte den israelischen Premierminister Ariel Scharon für vogelfrei.

„Wenn ich geschlagen werde, schlage ich zurück“, kommentierte der etwa 40 Jahre alte Emad, fassungslos auf das zerstörte Haus blickend. Ein Vergeltungsschlag sei längst überfällig, schließlich sei der Tod von Abu Schanab, einem engen Mitstreiter Jassins, noch immer ungesühnt: Abu Schanab starb in der vorvergangenen Woche bei einem Angriff israelischer Kampfflieger. „Nicht fünf, zehn oder fünfzehn Kilogramm“, so Emad, werde die nächste Bombe fassen, „sondern einhundert“. Emad gehört weder der Hamas noch dem Islamischen Dschihad an, dennoch gehe es hier auch um ihn „als Palästinenser“.

In Israel herrschte gestern erhöhte Alarmstufe. Das Westjordanland und der Gaza-Streifen wurden erneut komplett abgesperrt. Erst drei Tage zuvor hatte die Regierung in Jerusalem 18.000 palästinensischen Arbeitnehmern Einreisegenehmigungen zugestanden. Bereits am Morgen kam es, nachdem Passanten einen verdächtigen Gegenstand auf der Fahrbahn entdeckt hatten, aufgrund der Sicherheitsmaßnahmen zu langen Staus auf der Autobahn zwischen Jerusalem und Tel Aviv.

Es sei keine Frage, ob die Hamas zurückschlage, sondern nur wann und in welcher Form, meinte ein hoher Polizeikommandant. Auch aus Militärkreisen verlautete, die israelischen „Präventivschläge“ – will heißen: die Hinrichtungen der extremistischen Führer – beeinträchtigten nicht unmittelbar die Schlagkraft der militanten Organisationen. So würden Terroranschläge in den kommenden Tagen wenig überraschend sein, man könne allerdings davon ausgehen, dass diese von langer Hand geplant waren. Die Armee weigert sich, Zusammenhänge zwischen Luftangriffen und Terroranschlägen öffentlich wahrzunehmen.

In Tel Aviv, wo in den Wochen der Hudna – des Waffenstillstands – das Leben in den Einkaufszentren, den Straßencafés und auf den Märkten fast zur Normalität zurückgekehrt war, herrschte gestern erneut berechtigte Angst. „Was ist nur in Scharon gefahren?“, erzürnte sich eine junge Fotografin über den versuchten Mordanschlag gegen Scheich Jassin. Der Zeitpunkt ist auch für Barry, einen pensionierten Psychologen, unverständlich. „Es kann keinen strategischen Grund dafür geben“, sagt er, schließlich „lebt Jassin nicht im Untergrund“ und sei ein „leichtes Ziel“ für die Exekutionskommandos.

Das von Jassin besuchte Treffen habe der Vorbereitung weiterer Terroranschläge gedient, so die Begründung der Armee. Dass der politische Führer am Samstagnachmittag mit Mohammad Def, dem vom Israel meistgesuchten Terroristen, zusammensaß, bestätige, dass grundsätzlich kein Unterschied zwischen dem politischen und dem militärischen Flügel der Hamas bestehe. Zu einem ähnlichen Schluss kamen auch die Außenminister der EU, die sich am Wochenende prinzipiell darauf einigten, auch den politischen Arm der Hamas auf die Liste der terroristischen Organisationen zu setzen. Der militärische Flügel der Hamas wurde bereits vor zwei Jahren auf der „schwarzen Liste“ der EU notiert. Sobald der Entschluss offiziell wird, können die Konten der islamischen Extremisten gesperrt werden. SUSANNE KNAUL