Begrenzter Boom

Kein anderes Bundesland setzt so sehr auf den Tourismus wie Mecklenburg- Vorpommern. Die Küste wird immer voller, das Hinterland geht leer aus

Die Menschen in Städten wie Anklam oder Demmin werden Jahr für Jahr ärmer

VON SEBASTIAN MATTHES

Graue Wolken schieben sich über der Ferieninsel Usedom vor die Sonne. Wind zieht auf und reißt an dem Stoff der gelben Sonnenschirme auf der Terrasse des Hotel „Baltic“. Gleich wird es anfangen zu regnen. Hans Dornbusch sitzt auf einem Stuhl mit breiten Armlehnen und dicken gelben Kissen. Dornbusch lässt sich die Stimmung durch das Wetter nicht vermiesen. Das Hotel „Baltic“ gehört ihm. Und es läuft gut. Ausgebucht. Fünf Prozent der Besucher, die nach Usedom kommen, übernachten hier, sagt er. Der gebürtige Hamburger hat das Hotel vor zehn Jahren mit 46 Mitarbeitern übernommen. Heute arbeiten 190 junge Gastronomieprofis für ihn.

Die Tourismusindustrie in Mecklenburg-Vorpommern konnte in den vergangenen Jahren Besucherzahlen wie keine andere deutsche Region verzeichnen. 2003 kamen sechs Prozent mehr Urlauber an die Ostsee als im Jahr zuvor. „Der Tourismus ist längst wichtigster Beschäftigungsmotor Mecklenburg-Vorpommerns“, sagt Heiko Miraß, Geschäftsführer der Agentur für Arbeit in Stralsund. Doch nun stößt das Wachstum an seine Grenzen. Die Betten an der Küste sind ausgebucht und die Inseln voll gebaut. „Im Sommer ist nichts mehr drin. Wenn voll ist, ist voll. Wir können nur noch versuchen, die Nebensaison auszubauen“, sagt Hotelier Dornbusch. „Wir erreichen die Grenzen des Wachstums“, bestätigt Gerd Lange, Sprecher des Landeswirtschaftsministeriums.

Jahrelang hatte die rot-rote Landesregierung auf den Tourismus gesetzt und gehofft, dass die vielen Besucher einen Aufschwung in einem der ärmsten Bundesländer auslösen würden. In Küstennähe hat das funktioniert. Doch im Hinterland ist die Strategie gescheitert. Die Menschen in Städten wie Anklam oder Demmin werden Jahr für Jahr ärmer. Die Wirtschaftskraft sinkt und die Arbeitslosenzahl erreicht neue Rekordwerte.

Auch der Geschäftsführer der Agentur für Arbeit in Stralsund, Heiko Miraß, zweifelt an dem Allheilmittel Tourismus. Mecklenburg-Vorpommern hat in den vergangenen acht Jahren fast 30 Prozent seiner Arbeitsplätze verloren. „Machen wir uns nichts vor. Wo sollen die auf einmal herkommen?“ Detlef Müller, Tourismus-Experte der SPD-Landtagsfraktion, macht sich nichts vor. „Es wird verdammt schwer. Und ich gebe kleinlaut zu, dass wir in den letzten Jahren andere Bereiche vernachlässigt haben.“ Alexa Wien, Tourismusexpertin der PDS-Landtagsfraktion, sieht dagegen im Urlaubsgeschäft die einzige Möglichkeit für die Region: „Ohne den Tourismus wären wir längst tot, dann wäre gar keiner mehr hier. Wir müssen alles dafür tun, damit es in dem Sektor keinen Stillstand gibt.“

70 Kilometer gen Westen von Usedom, auf dem Festland, liegt Jarmen, Landkreis Demmin. Hier steht alles still. Von den Massen an Touristen, die Jahr für Jahr die Ostseeküste überrollen, bekommt man in Jarmen nichts mit. Morgens, in der Zeit, die anderswo Berufsverkehr genannt wird, ist kaum ein Mensch auf der Straße zu sehen. Der Zeitungsverkäufer an der Hauptstraße hatte an diesem Morgen erst drei Kunden. Offiziell haben 30 Prozent keinen Job. Doch diese Zahl beschönigt die Wirklichkeit. Rechnet man die Menschen in Trainingsmaßnahmen des Arbeitsamtes aus der offiziellen Erwerbstätigenstatistik heraus, liegt die eigentliche Arbeitslosenzahl deutlich höher. Von über 50 Prozent ist dann die Rede. Demmin gilt als ärmster Landkreis Deutschlands. „Hier gibt’s nichts zu tun“, sagt eine Politikerin, die mit diesen Aussagen lieber nicht zitiert werden will. Fast ein Drittel der Einwohner hat Demmin seit der Wende verloren.

Anja und Frank Steinborn sind geblieben. Das junge Ehepaar hofft auf eine Chance durch den Tourismus. Beide sind hier aufgewachsen, haben sich hier kennen gelernt und wollen hier gemeinsam alt werden. Er hat Bautischler gelernt. Sein Job fiel dem Zusammenbruch der Bauindustrie in Vorpommern zum Opfer. Sie war Krippenerzieherin und wurde nach der Wende arbeitslos. Sie kratzten ihr letztes Geld zusammen und meldeten ein Gewerbe an. Nun hängt seit drei Monaten ein grünes Schild mit der Aufschrift „Kanu-Verleih“ an ihrem schmiedeeisernen Gartentor.

Doch kaum ein Mensch weiß, dass im Vorgarten der Steinborns zehn frisch lackierte weiße Kanus für sie bereitstehen. Tag und Nacht wartet Frank Steinborn auf Kundschaft. Er hat sein Handy immer an, „falls was is’ mit den Booten oder so“. Für Werbung haben die beiden kein Geld. Und von selbst kommen die Touristen nicht. Wie sollen sie auch den Weg von der Küste nach Jarmen finden? Die Steinborns fühlen sich im Stich gelassen. „Die reden immer alle von Tourismus“, sagt er. Aber auf der Internetseite des Landkreises Demmin gebe es nur eine unübersichtliche Liste der attraktiven touristischen Ziele in der Region. „Woher sollen Touristen wissen, wie schön es hier ist?“

Das junge Unternehmerehepaar hat nun selbst eine Internetpräsenz ins Netz gestellt, auf der sie die landschaftlichen Reize der unberührten Natur von Demmin sowie ihre Boote und mehrtägigen Ausflüge auf dem Fluss Peene anpreisen.

Wasserwandern, Radsport, Gesundheit: Beim „sanften Tourismus“ sieht die Landesregierung die Möglichkeit, die kurze Sommersaison auszuweiten. Das ist auch eine Chance für die Steinborns. Das Hinterland soll touristisch erschlossen werden. SPD-Politiker Müller will Touristen über gezielte Vermarktung auf Messen, in Prospekten und über Internet auf die Region aufmerksam machen. Im „Landestourismuskonzept 2004“, einem Ausblick der Landesregierung auf Entwicklungspläne für die Branche, wird sanfter Tourismus als bedeutsam eingestuft. Die Idee: Interessierte kommen auch in der Nebensaison.