Millionen beim „Schrei der Ausgegrenzten“

In Brasilien protestierten die Armen auf Initiative der Kirchen und sozialer Bewegungen gegen ihre soziale Lage

PORTO ALEGRE taz ■ Am traditionellen „Schrei der Ausgegrenzten“, zu dem in Brasilien seit neun Jahren kirchliche Gruppen und soziale Bewegungen am Unabhängigkeitstag aufrufen, haben sich vorgestern hunderttausende beteiligt. Einem „Druckkochtopf, der jederzeit explodieren kann“, komme die soziale Lage Brasiliens gleich, meinte Erzbischof Geraldo Majella Agnelo in Salvador da Bahia.

In der Millionenstadt musste die Militärparade zum Nationalfeiertag abgebrochen werden, nachdem hunderte Studenten die Absperrungen der Polizei überwunden hatten. Landlose, Obdachlose und Aktivisten der Schwarzenbewegung schlossen sich an. Wegen der Erhöhung der Busfahrpreise von umgerechnet 40 auf 47 Cent war es in den Tagen zuvor zu Tumulten gekommen, bei denen ein Demonstrant ums Leben kam.

In 340 Städten sollen sich zwei Millionen Menschen an den Kundgebungen beteiligt haben, teilten die Veranstalter mit. Bevorzugte Ziele des Protests waren der Internationale Währungsfonds und die geplante gesamtamerikanische Freihandelszone (FTAA), zu der die Organisatoren eine offizielle Volksabstimmung fordern.

Verhalten blieb jedoch die Kritik an der Regierung Lula, trotz deren „Fortsetzung der neoliberalen Politik“, wie Landlosensprecher João Pedro Stedile im Wallfahrtsort Aparecida do Norte anmerkte. Die dortige Kundgebung, an der zehntausende teilnahmen, versuchte die örtliche Arbeiterpartei PT durch das Verteilen roter Fähnchen zu einer Parteiveranstaltung umzufunktionieren. Dagegen verteilten Pfarrer und katholische Laien Flugblätter mit einer „Warnung“ vor „autoritären und sozial unsensiblen Verhaltensweisen so genannter Linksregierungen“.

Parallel zur WTO-Ministerrunde im mexikanischen Cancún seien in ganz Lateinamerika Proteste gegen Neoliberalismus und die Militarisierung des Subkontinents geplant, sagte Maria Luísa Mendonça von der internationalen Koordination des „Schreis“ in São Paulo. Zwar wachsen bei den AktivistInnen die Zweifel, inwieweit die brasilianische Regierung noch als Bündnispartner anzusehen ist. Die „dringenden Maßnahmen“ nämlich, die Bischof Agnelo fordert, um eine „Explosion“ zu verhindern, lassen auf sich warten. Mit Umverteilung haben auch die Renten- und Steuerreformen, die zuletzt dank breiter Bündnisse mit der parlamentarischen Rechten verabschiedet wurden, kaum etwas zu tun. Die nämlich stehen auch in Brasilien unter dem Vorzeichen der Konsolidierung des Staatshaushaltes und dem Abbau des Defizits. Kein Wunder, dass Lula sie vor allem im Bündnis mit der politischen Rechten durchsetzt. Aber sobald der Präsident bei seinen Anhängern um Geduld wirbt, kann er mit breitem Verständnis rechnen – selbst unter den Demonstranten vom Sonntag. GERHARD DILGER