Rot-Grün nicht auf Bereitschaft

Klinikärzte halten ihre Arbeitszeiten für unzumutbar. Ihnen könnte heute der Europäische Gerichtshof zur Seite springen. Die Regierung lässt sich Zeit

von ULRIKE WINKELMANN

Einen Laster dürfte sie nicht mehr fahren, ein Flugzeug nicht mehr steuern, jeder Arzt riete ihr davon ab, überhaupt noch etwas zu tun, womit sie andere gefährden könnte. Aber Spritzen setzen, Tröpfe anhängen, Schläuche in Lungen einführen, das soll die Narkoseärztin Heide B., 33, noch während ihres so genannten Rufdienstes in einer Sonntagnacht. Zu diesem Zeitpunkt hat sie dann freitags voll gearbeitet, sie wird montags voll arbeiten.

Ihre zusätzliche Rufbereitschaft am Wochenende sieht so aus: „Die Chirurgen ziehen das volle OP-Programm durch, erklären sämtliche Fälle zu Notfällen, und wir Anästhesisten müssen dann springen.“ Bereitschaftsdienste, die sich nächtens an die Tagdienste anschließen, führten dazu, dass sie bis zu 24 Stunden im Krankenhaus verbringe. Die Arbeitszeiten, die strikte Ärztehierarchie, die Angst, im übermüdeten Zustand Fehler zu machen – unterm Strich erklärt Heide B. die Arbeit in ihrer Berliner Klinik für „völlig unerträglich“.

An den Arbeitsbedingungen der Ärzte in den Krankenhäusern, darüber sind sich seit Jahren alle einig, muss sich etwas ändern. Trotz vieler Kämpfe sind überlange Arbeitszeiten für junge Assistenzärzte in den meisten Kliniken noch die Regel. Sie entstehen dadurch, dass nur Tagesschichten als „Arbeit“ gerechnet werden, während die nächtlichen Bereitschaftsdienste als „Ruhephasen“ gelten – was sie aber selten sind.

Heute nun wird der Europäische Gerichtshof (EuGH) ein Urteil darüber fällen, ob Bereitschaftsdienste in Deutschland als Arbeitszeiten zu werten sind oder nicht. Sagt er wie erwartet Ja, wird die Bundesrepublik das Arbeitszeitrecht, werden Deutschlands 2.200 Krankenhäuser die Arbeitsstrukturen für die 143.000 Klinikärzte anpassen müssen – und mehr Ärzte einstellen.

Zuständig für eine Gesetzesänderung ist federführend das Wirtschaftsministerium von Wolfgang Clement (SPD), aber die Diskussion führt das Gesundheitsministerium von Ulla Schmidt (auch SPD). In beiden Häusern hält man eine verbindliche rechtliche Regelung bislang nicht für erstrebenswert, sondern spielt auf Zeit. Den Krankenhäusern soll dadurch Spielraum gelassen werden, die Arbeitszeiten selbst mit den Betriebsräten auszuhandeln.

Immerhin gibt es hierfür aber mit der aktuellen Gesundheitsreform auch Geld: Bis 2009 werden 100 Millionen Euro im Jahr bereitgestellt, um neue Arbeitszeitmodelle zu erproben, 700 Millionen Euro insgesamt. De facto sind damit die Forderungen des Marburger Bundes, der Vertretung der Krankenhausärzte, erfüllt. Denn wenn man 50.000 Euro pro Arzt und Jahr rechnet, können mit dem Geld 2.000 Ärzte pro Jahr eingestellt werden, macht nach sieben Jahren 14.000 Ärzte. Zwar fordert die Deutsche Krankenhausgesellschaft knapp das Doppelte, aber „irgendwann muss man auch mal aufhören zu keckern und sagen, das ist eine gute Lösung“, sagt der Vorsitzende des Marburger Bundes, Frank-Ulrich Montgomery. Nun geht es aber nicht bloß darum, mehr Ärzte einzustellen, sondern ihnen allen die Arbeit zu erleichtern. Dazu müssen die Betriebsräte nachweisen, dass das Geld, das sie aus dem 700-Millionen-Topf abfordern, auch für „innovative“ Modelle eingesetzt wird. Kontrollen etwa durch Behörden sind nicht vorgesehen. Das klingt schon beim ersten Hinhören nach Missbrauch: dass also Geld, wie üblich im Gesundheitssystem, abgerufen wird, ohne dass sich sonst etwas verbessert. Montgomery rechnet mit einer „zehn- bis zwanzigprozentigen“ Missbrauchsquote.

Doch vielleicht findet ja auch die Regierung, dass dies nur durch eine klare gesetzliche Regelung zu verhindern ist. Dann wird sie ganz von selbst handeln.