Japans neues Prekariat stürzt ab

Einst hielten Jobs in Japan ein Leben lang. Nun sorgt die Wirtschaftskrise dafür, dass Arbeitnehmer in Japan tiefer fallen als in anderen Industrieländern. Gerade Leiharbeitern droht der totale Absturz

AUS TOKIO MARTIN FRITZ

Zeitarbeiter protestieren vor Werkstoren und Firmenzentralen gegen ihre Entlassung, Tagelöhner demonstrieren für bessere Lebensverhältnisse, Obdachlose errichten eine Zeltstadt mitten in der Hauptstadt Tokio. Japan hat schon einige Wirtschaftskrisen erlebt, doch solche Bilder waren bisher unbekannt.

„Es ist unverzeihlich, dass so viele Menschen keine Arbeit mehr finden“, empört sich der 23-jährige Kenichi Furuya, der sich seit dem Oberschulabschluss mit Kurzzeitjobs über Wasser hält. „Ich wurde um meine Hoffnungen betrogen“, beschwert sich ein älterer Fabrikarbeiter, der mit dem Job auch seinen Platz im Werkswohnheim verlor. „Meine Firma sollte sich um mich kümmern, statt mich in die Kälte zu werfen.“

Die vermutlich schwerste Wirtschaftskrise der Nachkriegszeit in Japan hat die „irregulär“ Beschäftigten, vor allem die Zeit- und Leiharbeiter, schwer getroffen. Nach offiziellen Angaben verloren zwischen Oktober und März knapp 160.000 Zeitarbeiter ihren Job, laut dem Verband der privaten Arbeitsagenturen sind es 400.000. Entlassungen in diesem Ausmaß sind eine neue Erfahrung für Japan. In früheren Rezessionen schickten die Firmen ältere Mitarbeiter mit hohen Abfindungen in den Vorruhestand und setzten Teile der Belegschaft auf schlechter bezahlte Stellen um. Dieses eher sanfte Vorgehen war dem konfuzianischen Denken und strengen Schutzgesetzen für Arbeitnehmer geschuldet.

Doch die japanische Arbeitswelt hat sich dramatisch verändert: Die Zahl der nicht fest angestellten Arbeitnehmer ist zwischen 1992 und 2007 bei Dienstleistungen von knapp 25 auf über 39 Prozent gestiegen, im verarbeitenden Gewerbe von fast 18 auf 23 Prozent. Anders als Festangestellte sind sie rechtlich kaum geschützt. Ermöglicht wurde dies durch deregulierte Arbeitsgesetze. Seitdem können Großkonzerne wie Toyota, Canon und Hitachi ihre Zeit- und Leiharbeiter je nach Auftragsvolumen extrem flexibel einsetzen. Die Arbeitskräfte können von heute auf morgen abgezogen und sofort an einem anderen Ort in einer neuen Firma einsetzt werden. „So etwas gibt es nirgendwo auf der Welt“, meint Makoto Kawazoe von der „Gewerkschaft für junge Zeitarbeiter“ in Tokio.

Aus dem Heer der Leih- und Zeitarbeiter rekrutiert sich Japans neues Prekariat. Ein Zeitarbeiter verdient in der produzierenden Industrie mit Überstunden und Nachtschichten nicht mehr als umgerechnet 2.000 Euro brutto im Monat. Über 10 Millionen Japaner verdienen unter 16.000 Euro jährlich. Wer weniger als drei Viertel einer vollen Stelle arbeitet, hat keinen Anspruch auf einen Zuschuss zu Krankenversicherung und Volksrente. Nur wer länger als ein Jahr denselben Job hatte, erhält Arbeitslosengeld – und das auch nur sechs Monate lang. Jeder vierte entlassene Zeitarbeiter hat keine Familie mehr, die ihn aufnehmen könnte, und landet auf der Straße. Sozialhilfe gibt es für Arbeitsfähige nur in Ausnahmefällen. Der Staat tut fast nichts für die berufliche Weiterbildung, ein zweiter Arbeitsmarkt existiert nicht. Kritiker sprechen von einer „Rutsch-Gesellschaft“: Wer unten angekommen ist, kommt nie wieder hoch.

Die Wirtschaftskrise zwingt Politik und Gesellschaft jetzt zum Umdenken. Firmen erhalten nun Zuschüsse, wenn sie entlassene Zeitarbeiter weiter in der Werksunterkunft wohnen lassen. Arbeitslosengeld soll es nun schon nach sechs Monaten Jobdauer geben. Vielen Zeitarbeitern dürfte das aber nicht reichen. „Japan wird in die Siebzigerjahre zurückkehren“, sagt der Gewerkschafter Naoko Shimizu voraus: „Das bedeutet mehr Streiks, mehr Demonstrationen, mehr Fabrikbesetzungen!“