Offene Gesellschaft

Die Schweden waren stolz darauf, dass ihre Politiker sich ungeschützt bewegen konnten

aus Stockholm REINHARD WOLFF

Dem „offenen Umgang“ in der schwedischen Gesellschaft zum Opfer gefallen sei seine Außenministerin, trauerte Ministerpräsident Göran Persson, als er gestern am frühen Donnerstagmorgen den Tod Anna Lindhs bekannt gab. Die Frage, ob Verfassungsschutz und Polizei beim Personenschutz von PolitikerInnen wieder mal geschlampt haben, hatte er schon am Abend vorher gestellt. Als die Meldungen über die Stichverletzungen Anna Lindhs noch relativ harmlos klangen. Doch der Messerüberfall auf sie an einer Rolltreppe im Kaufhaus „NK“ mitten in Stockholm entwickelte sich zu einem hoffnungslosen Kampf der Ärzte gegen nicht zu stoppende innere Blutungen. Und weckte damit umgehend Parallelen zu einem anderen Politikerattentat: der Ermordung von Ministerpräsident Olof Palme in einer Februarnacht im Jahre 1986, nur einige hundert Meter entfernt.

Lindh hatte keinen Personenschutz. Einen solchen gibt es seit dem Palme-Attentat nur für den König und den Ministerpräsidenten. Die schwedischen PolitikerInnen bewegten sich bislang so frei und unbewacht im Land wie „Medelsvensson“, wie Otto Normalverbraucher auf Schwedisch heißt. Und wie es bis gestern nur noch in Norwegen und mit Abstrichen in Finnland üblich war. Eine „Offenheit“, auf die nicht nur die Skandinavier selbst, sondern auch ihre Medien stolz waren. Und sich deshalb darüber mokierten, als der deutsche Außenminister Joschka Fischer im Sommer am Strand von Gotland sich nur steif in einem Schwarm von Leibwächtern bewegen konnte, während seine schwedische Kollegin neben ihm vergnügt barfuß über die Steine hüpfte.

Gerade Anna Lindh konnte man häufig nicht nur allein beim Einkaufen in der City oder mit ihrer Tasche in der Abfertigungshalle des Flughafens Arlanda beim Warten auf den Abflug treffen. Sie wartete auch regelmäßig am Abend auf dem Bahnsteig des Stockholmer Hauptbahnhofs, um die eine Stunde mit dem Intercity-Zug nach Hause zu fahren, zu ihrer Familie in Nyköping. Gewohnheiten, die ein möglicher Attentäter mit Leichtigkeit hätte herausfinden können.

Aus diesem Grund geht man momentan nicht von einem geplanten Attentat aus. In den letzten Monaten kam es in Stockholm wiederholt zu Gewalttaten mit teilweise tödlichem Ausgang, in welchen Täter sich offenbar wahllos Opfer suchten. Was zu einer aufgeregten Debatte über die Auswirkungen einer Psychiatriereform führte, bei der man die psychiatrischen Kliniken aufgelöst und das Budget zusammengestrichen hatte. Nicht nur Exministerpräsident Carl Bildt sprach deshalb in einer spontanen Reaktion von einem „Verrückten“ als möglichen Täter.

Doch es gibt auch andere Spekulationen über das Tatmotiv. Sie bewegen sich auf der gesamten Skala: von politischem Attentat bis hin zu einer möglichen Personenverwechslung durch einen unter Drogen stehenden Täter. Am Donnerstagnachmittag hatte die Polizei von diesem noch keine heiße Spur, zur Verfügung stand ihr lediglich eine vage Personenbeschreibung.

„Das ist natürlich ein Misslingen“, gestand der Chef des Verfassungsschutzes Säpö, Kurt Malmström, unumwunden ein. Eine spezielle Abteilung der Säpö ist seit dem Palme-Attentat verantwortlich für den Personenschutz schwedischer PolitikerInnen. Bei rund 400 führenden Persönlichkeiten entscheidet die Säpö von Fall zu Fall, ob eine Bedrohung vorliegt, die einen Personenschutz notwendig machen könnte. Erste Politikerreaktionen und Medienkommentare zeigen allerdings Unverständnis darüber, dass man im Endspurt einer teilweise mit harten Bandagen und Personenangriffen geführten Volksabstimmungskampagne nicht von einer erhöhten Bedrohung der führenden RepräsentantInnen beider Seiten ausging.

Die Euro-Kampagne ist nach dem Attentat eingestellt worden. Darüber, dass das Referendum wie geplant an diesem Sonntag stattfindet, erzielten alle Parteivorsitzenden aber schnell Einigkeit. Abzusehen ist jedoch bereits ein Problem: Sollte die Ja-Seite, die nach letzten Umfragen rund zehn Prozent hinter den Euro-Gegnern zurückliegt, nun mit „Lindh-Sympathiestimmen“ plötzlich das erwartete Ergebnis auf den Kopf stellen, dürfte es zu einer Diskussion kommen, auf welcher Grundlage das schwedische Volk über den Euro-Beitritt entschieden hat.