„Die Reform ist viel zu drastisch“

Sie sind gegen Hartz IV, gegen den Kanzler und seine Agenda 2010. Vor allem sind sie die Verlierer der Sozialreform. Das ist aber auch schon alles, was die Montagsdemonstranten eint. Fünf Porträts

VON FELIX LEE
UND ALENA SCHRÖDER

Die Arbeitslose: 640 Euro Arbeitslosenhilfe bekommt Helga aus Kaulsdorf momentan. Kommt Hartz IV sollen es 250 Euro weniger sein. „Wie soll ich davon leben können?“, fragt die 47-Jährige. Sie ist zum ersten Mal auf einer Demonstration – seit der Wende. 1989 hat sie auch mal auf der Straße gestanden. Gegen Honecker. Seither nicht mehr. In Kreuzberg ist sie noch nie gewesen, gesteht sie. Sie hat aber schon von vielen Demos aus dieser „Ecke der Stadt“ gehört.

Von der Montagsdemo hat sie aus der Zeitung erfahren. „Da müssen wir auch hin“, habe sie ihrer drei Jahre jüngeren Schwester beim Kaffee gesagt. Schon eine Stunde vor Demonstrationsbeginn steht sie nun auf dem Alexanderplatz. Sie wollte den Zug auf keinen Fall verpassen. Parolen brüllen? Das sei nicht so ihr Ding. Ihr 15-jähriger Sohn, der könne das. Aber der wollte nicht kommen. Überhaupt hätten mehr kommen können, findet sie. Sie ist betroffen, ihr Schwager ist betroffen, der Nachbar, allein in ihrem Dorf kenne sie ein halbes Dutzend, die ab Januar weniger Geld in der Tasche haben werden. „Alle um mich herum füllen gerade diese blöden Anträge aus“, sagt sie.

Vom Lautsprecherwagen aus singt eine Frau mit kurzem blondierten Haar immer wieder den Refrain: „Keiner schiebt uns weg“. Dann redet ein junger Mann im roten T-Shirt. „Zehntausende, die zum gleichen Zeitpunkt in über hundert Städten demonstrieren – wir sind nicht allein“, brüllt er ins Mikro.

Helga ist gerührt. Ihre Augen sind feucht. „Irgendwie sind wir immer durchs Leben gekommen. Schon zu DDR-Zeiten. Uns ging’s nie wirklich schlecht“, sagt sie. Das wird jetzt irgendwie anders. Nächsten Montag will sie wieder kommen. „Komm“, sagt sie zu ihrer Schwester. „Ich will nicht so weit hinten laufen. Nachher passiert da noch was.“

Der Maurer: Ein bisschen kann Torsten den Kanzler sogar verstehen: „Es muss eben gespart werden und irgendwo muss die Knete ja herkommen“, sagt der 28-Jährige. „Jetzt greifen sie nur einfach den Falschen in die Tasche.“ Er ist Maurer und hat Arbeit – noch. Das Gewerbe ist krisengeschüttelt, fünfmal war er schon arbeitslos. Einen neuen Job hat er sich immer wieder selbst besorgt, weil es „beim Arbeitsamt eh nichts zu holen gibt“.

Torsten hat einen klaren Grund für seine Demonstrationsteilnahme: „Die Reform ist viel zu drastisch. Man hätte das doch in Etappen machen können. Und warum sollte ich zu Hause sitzen und jammern?“ Leute, die das tun, kennt er genug. Deren Stammtischgeschwafel geht ihm auf die Nerven: „Viele sitzen doch frustriert auf dem Sofa, schimpfen auf die Regierung und werden selbst nicht aktiv.“ Zur Demo kam er alleine, von seinen Kumpels und Arbeitskollegen wollte keiner mit.

2002 hat Torsten noch Schröder gewählt. Wo er 2006 sein Kreuzchen macht, weiß er noch nicht. Eine Alternative zu Rot-Grün sieht er nicht. „Am Ende denken alle Politiker erst mal an ihre eigene Kohle“, sagt er. Die potenziellen Wahlalternativen innerhalb der Montagsdemo haben bei Torsten jedenfalls auch kein Glück: Dass „die Nazis und die Kommunisten“ den Protest als Plattform nutzen, stört ihn gewaltig. Abhalten lassen will er sich von denen nicht: „Man kann ja keinem verbieten, hier mitzumachen. Und wenn ich mich jetzt nicht wehre, bereue ich es später vielleicht noch mal.“

Die SPD-Wählerin: Grundsätzlich hat Jutta gar nichts gegen Reformen. „Aber die Engstirnigkeit, mit der Hartz IV realisiert wird, regt mich auf“, sagt die 42-jährige Diplom-Kommunikationswirtin. Seit zweieinhalb Jahren ist sie arbeitslos, hat unzählige Bewerbungen geschrieben, sich weiter gebildet, Umschulungen gemacht. „In der ganzen Zeit kam vom Arbeitsamt nur ein einziges konkretes Jobangebot“, sagt sie. Daraus wurde schließlich nichts, ihr Profil passte gar nicht auf die Bedürfnisse der Firma. Jetzt will sie ihren Frust vor die SPD-Zentrale tragen und sich gegen den „blinden Aktionismus der Regierung“ wehren.

„Leute, die auf dem Arbeitsmarkt ohnehin chancenlos sind, rutschen mit Hartz IV doch immer tiefer“, sagt sie. Jutta lebt mit ihrer pflegebedürftigen Mutter zusammen. Selbst deren Rente würde mit Hartz IV jetzt auf ihr Arbeitslosengeld II angerechnet, glaubt sie. Deshalb will sie sich selbstständig machen, eine Ich-AG gründen und sich nicht weiter von Personalchefs erniedrigen lassen. Eine Option, die ab dem 1. Januar 2005 auch nicht mehr für alle besteht. „Ich bekomme dann einen persönlichen Betreuer, der darüber entscheidet, ob ich die Ich-AG gründen darf. Dem bin ich dann auf Gedeih und Verderb ausgeliefert – dabei haben die Leute vom Arbeitsamt von meiner Branche keine Ahnung“, sagt Jutta.

Dennoch würde sie 2006 noch mal Schröder wählen. „Aber nur mit großen Bauchschmerzen“, sagt sie. „Der hatte nach 16 Jahren Kohl eine wirklich historische Chance – und die hat er gründlich vermasselt.“

Der Student: Philipp, 21, hat sich zum kommenden Semester für Philosophie, Politikwissenschaft und Psychologie eingeschrieben. Jetzt hat er Angst, dass aus seinem Studium nichts werden könnte: Seine Mutter ist seit mehreren Jahren arbeitslos und wird ihn finanziell kaum unterstützen können. Ihre Lebensversicherung, deren Erlös dem Sohn das Studium mitfinanzieren sollte, muss sie jetzt auflösen und für ihren Lebensunterhalt verbrauchen. „Desillusionierend“ findet Philipp die derzeitige Politik. Von Nichtwählern hat er nie viel gehalten, jetzt will er vielleicht selber einer werden. „Das ist doch schon die sozialste Regierung, die wir haben können“, sagt er. „Wenn die schon so was machen, wen soll man dann überhaupt noch wählen?“ Wie „hardcore“ der gesellschaftliche Wandel ist, sei ihm dieses Jahr bei einem Attac-Workshop aufgegangen.

Der Demozug steht kurz vor dem Willy-Brandt-Haus, Philipp muss gegen die lauter werdenden Trillerpfeifen anbrüllen. „Neoliberalismus! Ellenbogengesellschaft!“, dagegen protestiere er heute. Und natürlich für den Sozialstaat und seine Hartz-betroffene Mutter.

Der Erwerbslosenaktivist: Die Arbeitslosigkeit ist Wolfgang in die Wiege gelegt. Im Ruhrpott ist er aufgewachsen. Sein Vater war Bergbauer. Aber dann verlor er den Job. Sie zogen nach Hessen und irgendwann war der Vater auch dort arbeitslos. „Dieses Glück habe ich geerbt“, glaubt Wolfgang. Er ist 50, wirkt aber wie 60. In der rechten Hand hält er eine Stange, an der ein Transparent angetackert ist. „Arbeitslos + Wut im Bauch? Wir auch! Gemeinsam statt einsam!“ steht darauf.

Bereits seit einigen Jahren ist er aktiv bei der Erwerbsloseninitiative Neukölln. Im früheren Leben hat er mal Bauzeichner gelernt. „Aber das ist lange her“, sagt er. „Diesen Job habe ich nie wirklich ausgeführt. Mit Gelegenheitsjobs hat er sich durchgeschlagen.

Hoffnung auf einen neuen Job habe er schon lange nicht mehr. „Aber jetzt wollen die auch noch an meine Sozialhilfe.“ Weniger würde er bekommen. Er habe das schon akribisch ausgerechnet. Denn vorher hat das Sozialamt noch sein gesamtes Wohngeld übernommen, plus Bewag, plus Wasser.

Das soll mit Hartz IV vorbei sein. „Ich traue diesem Wirtschaftssystem nicht mehr“, sagt er. Auch nicht den Parteien. „Wir haben doch eine große Allparteienkoalition“, sagt er. An einen Erfolg des Montagsprotestes glaubt er nicht wirklich. Aber er will wieder kommen. Schließlich sei er bisher auf fast allen Demos gegen Sozialabbau gewesen.