Estlands Euroskeptiker verlieren an Boden

Morgen stimmen die Esten über einen Beitritt ihres Landes zur EU ab. Letzte Umfragen sehen die Befürworter vorne

Die EU-Aufnahmebedingungen erledigte Tallinn gewissenhaft und vorfristig

MOSKAU taz ■ Die Bürger im estnischen Pärnu trauten ihren Augen nicht. Die Wahlunterlagen zum Referendum über den EU-Beitritt an diesem Wochenende flatterten in Briefumschlägen ins Haus, die traumatische Erinnerungen weckten. Die Eintrittskarten ins bessere Europa kamen in sowjetischen Kuverts daher, versehen mit Hammer und Sichel. War dies der Streich eines unterforderten Postbeamten oder eine Aktion der estnischen Euroskeptiker, deren Fraktion in den letzten Wochen erheblichen Zulauf verzeichnete?

Auch in Kohtla-Järve wurde auf unschöne Art der Vergangenheit gedacht. Dort warben Plakate mit appetitlichem Butterbrot und Mädchen inklusive Warenkorb für die EU, während auf der russischen Seite der Landkarte über dem Konterfei eines im Müllkontainer wühlenden Obdachlosen „njet“ prangte. In Kohtla leben vornehmlich Russen, die nicht wahlberechtigt sind, wenn sie die estnische Staatbürgerschaft nicht erworben haben.

Rund ein Viertel der 1,4 Millionen Bürger Estlands sind Russen. Davon haben seit der Unabhängigkeit 1991 rund 120.000 einen estnischen Pass beantragt, 70.000 gelten als staatenlos. Die Tendenz zur Eingliederung steigt indes, so dass sich die OSZE in diesem Jahr zurückzog.

Estland ist das Musterländle unter den zehn osteuropäischen Aufnahmekandidaten. Mitte der 90er-Jahre wartete es mit zweistelligen wirtschaftlichen Wachstumsraten auf. Inzwischen legt die Wirtschaft jährlich nur noch 5 Prozent zu, dafür aber stetig. Mit dazu beigetragen hat eine sehr junge Politikergeneration, die Estland durch die Aufbruchphase schleuste. Kaum ein führender Politiker war älter als dreißig und meist Parteigänger ultraliberaler Überzeugungen, die auf soziale Folgen des Umbaus wenig achteten.

Trotzdem oder gerade deswegen erwies sich die Transformation Estlands als effektiver als bei den Nachbarn. Die Aufnahmebedingungen der EU erledigte Tallinn gewissenhaft und vorfristig. Überdies konnte es Brüssel noch einige Sonderbedingungen abringen. Und nun das! Am Vorabend der Abstimmung fordert die Zentrumspartei, die größte Fraktion im Riigikogu, dem estnischen Parlament, ihre Anhänger auf, gegen die EU zu stimmen. 341 Mitglieder der oppositionellen Mitte-Links-Partei sprachen sich im August gegen die Integration, 235 dafür aus. Namhafte Persönlichkeiten des Zentrums erklärten indes, sich nicht an den Parteibeschluss zu halten und weiter für Europa zu werben.

Fraktionszwang ist etwas, was die ausgeprägt individualistischen Esten nur in äußerster Bedrängnis akzeptieren würden. Sehr verschiedene Bedenken hegen die EU-Gegner: Die meisten fürchten nach dem Beitritt im Mai 2004 einen weiteren Anstieg der Arbeitslosigkeit, die zurzeit 11 Prozent erreicht hat. Nicht unerheblich sind auch die Bedenken der ländlichen Bevölkerung, die zusätzliche Auflagen und sinkenden Absatz befürchtet. Vor allem spielt der populistische Parteivorsitzende des Zentrums, Edgaar Savisaar, mit der teuren Souveränität. Knapp dreißig Jahre haben die Esten in den letzten sieben Jahrhunderten selbstverwaltet gelebt. Die längste Zeit standen sie unter der Knute einer deutschen Oberschicht, die formal dem Zarenreich unterstellt war. Keine optimalen Bedingungen für Selbstentfaltung.

Die „Grauen“ nennt Estlands Literaturnobelpreisanwärter Jaan Kross die Landsleute denn auch in seinen historischen Romanen, die zu Sowjetzeiten entstanden und über die deutschen Kolonialherren eigentlich Moskaus kommunistische Fremdherrschaft anprangerten.

Estland war von Anfang an das euroskeptischste Land in Osteuropa. Den meisten Esten war unwohl bei dem Gedanken, nach der Zwangsunion der sozialistischen Sowjetrepubliken an die Brüsseler Union Souveränität abzutreten. Die EU-Befürworter verfügten über eine hauchdünne Mehrheit. In letzten Umfragen haben die Euro-Optimisten wieder einen Vorsprung von 10 Prozentpunkten erlangt.

Gegen die EU zog auch die Vereinigte Volkspartei – ein Zusammenschluss der russischsprachigen Bevölkerung – im letzten Moment noch zu Felde. Vor allem die ältere Generation befürchtet arbeitsmarktpolitische Konsequenzen. Demgegenüber sehen die jüngeren „Euro-Russen“ im Beitritt eine Chance, mit den Esten langsam gleichzuziehen. Beim Nein bleibt auch der Nudisten-Verband. Er werde erst zustimmen, wenn Estlands Nackte nicht mehr diskriminiert würden. Die Nudisten wissen um ihre mythische Kraft: jeder Dämon wird vertrieben, wenn sich ihm der Mensch nackt und bloß zeigt. KLAUS-HELGE DONATH