Der Goldfisch geht an Land

Der Traum der Schwimmerin Franziska van Almsick, ihre lange Karriere doch noch mit dem Olympiasieg über 200 m Freistil beenden zu können, ist am Dienstag mit dem fünften Rang geplatzt. Das Puzzle einer langen und wechselvollen Karriere

AUS ATHEN FRANK KETTERER

Das Finale

Es ist Dienstag, 19.39 Uhr in Athen, und Franziska van Almsick erscheint gut verpackt im Aquatic Center, dem olympischen Schwimmstadion. Badekappe, Schwimmbrille, Trainingsjacke, Schwimmanzug, auf den Ohren große, silberne Kopfhörer. Sie schreitet zu ihrem Stuhl, lässt sich nieder, starrt gedankenverloren in die Ferne. Bei der Vorstellung der Athleten winkt Franziska van Almsick nur kurz ins Publikum. Sie ist in einem Tunnel der Konzentration, ihrem Tunnel – und sie pellt sich als letzte der acht Starterinnen aus ihren Sachen und schreitet zum Startblock auf Bahn sieben. Es folgt der Startschuss – und das Rennen: Zweite ist van Almsick nach 50 Metern – sie liegt auf Kurs. Erste nach 100 Metern – es riecht nach Gold. Nach der dritten Bahn ist alles schon vorbei: Rang fünf. Am Ende bleibt die Uhr bei 1:58,88 Minuten stehen, 85 Hundertstelsekunden hinter der Siegerin Camelia Potec aus Rumänien. Potec sagt: „Franziska tut mir unheimlich Leid. Sie war immer ein Idol für mich. Sie hat alles, sie kann gut schwimmen, sieht gut aus, sie bewegt sich gut. Ich wollte immer so werden wie sie.“ Nun hat sie Gold – und ihr Idol Franziska nicht. Die sagt: „Über die Zeit kann ich nur lachen. Im Training bin ich das reihenweise geschwommen.“

Der Prolog

Es ist die internationale Eröffnungspressekonferenz des Deutschen Nationalen Komitees (NOK) bei Olympia, und noch sind 48 Stunden Zeit, bis das große Feuer entzündet wird. Auch Franziska van Almsick ist erschienen, um der Weltpresse ein bisschen was von sich zu erzählen. Sie legt sich, eine Sonnenbrille auf der Nase, bequem in ihren Sessel, und ein bisschen sieht es aus, als langweile sie der ganze Zinnober. Dann ist Franziska van Almsick endlich an der Reihe und sie sagt: „Am liebsten würde ich zurückfliegen. Ich bin sehr weit vorgeprescht mit meinem Goldziel über 200 Meter Freistil.“ Sie sagt auch: „Ich weiß aber, dass mein Leben nicht davon abhängt, wenn ich kein Gold gewinne.“ Sie hat lange gebraucht, um zu diesem Satz zu kommen. Über ihren zweiten Platz bei den Spielen vor acht Jahren in Atlanta hat sie einmal gesagt: „Ich habe tatsächlich gedacht, ich bin ein schlechter Mensch, wenn ich verliere.“ Nach ihrem Vorrundenaus in Sydney habe sie sich gefühlt wie „ein Stück Mist“.

Die sportliche Karriere

Man muss weit zurückblättern, schließlich ist Franziska van Almsick schon lange dabei. 1992 bei den Olympischen Spielen in Barcelona gewann sie Silber – als 14-Jährige. Es war eine Sensation, und Deutschland begann die Göre aus Berlin im Handumdrehen zu lieben. Es folgten: zwei Weltmeistertitel, 18-mal Gold bei Europameisterschaften, 31 deutsche Meistertitel. Franziska van Almsick steckt jetzt 20 Jahre im Leistungssport. Sie hat alles gewonnen – nur nicht bei Olympia. 1996 in Atlanta entreißt ihr Claudia Poll aus Costa Rica Gold; dass Poll ein paar Jahre später des Dopings überführt wird, sollte nicht unerwähnt bleiben. 2000 in Sydney qualifiziert sich Franziska van Almsick erst gar nicht fürs Finale. Olympiagold fehlt ihr. Schon lange vor den Spielen hat Franziska van Almsick gesagt: „Es gibt nur noch eine Sache, die ich will, und das ist der Olympiasieg. Ich fahre nach Athen, um Gold zu holen.“

Der Druck

Franziska van Almsick steigt aus dem Becken im Aquatic Center und sagt: „Ist ja ganz schön, wenn ganz Deutschland vor der Glotze sitzt, aber das war einfach zu viel. Ich bin an dem Erwartungsdruck gescheitert – wieder einmal.“ Und wie groß dieser Erwartungsdruck tatsächlich war, konnte man vorab schon lesen: „Ihr Auftritt wird ohne Frage der emotionale Höhepunkt der Spiele für das deutsche Publikum“, schrieb der Spiegel; „das größte Spektakel, das die Deutschen in Athen zu bieten haben“, nannte ihren Auftritt die Süddeutsche. Dabei hatte Franziska van Almsick alles getan, um nicht an diesem Druck zu scheitern, die Zusammenarbeit mit einer Psychologin inbegriffen. Aber kann ein einzelner Mensch das überhaupt verkraften: dass er die Goldhoffnung einer ganzen Nation ist? Und wenn ja, was ist mit den eigenen Erwartungshaltungen? Sie war doch nur wegen Gold nach Athen gekommen. „Nur mit einem Olympiasieg macht man sich unsterblich“, hat Klaus Steinbach, der Präsident des Nationalen Olympischen Komitees (NOK), kürzlich zu ihr gesagt. Was für ein dummer Satz, angesichts von zwei Welt- und 18 Europameisterschaftstiteln.

Die öffentliche Person

Die Silbermedaille in Barcelona 1992 war ja nur der Auftakt. Als Franziska van Almsick ein Jahr später bei den Europameisterschaften in Sheffield sechs Titel holte, erklärte sie Deutschland zum „Goldfisch der Nation“. Ein nationaler Goldfisch aber kann nicht für sich leben, er ist immer öffentlich. Er hat kein Anrecht auf Privatleben oder auch nur Privatsphäre. Hinzu kam, dass Deutschland inzwischen vereint war – und die süße Franzi aus dem Osten stammt. „Sie kommt aus dem Osten, aber sie riecht nicht nach DDR“, schrieb die Zeit. Und selbst der Kanzler, der damals noch Kohl hieß, lud die 14-Jährige auf einen seiner Empfänge ein, um sie als Symbol für das neue Deutschland vorzuzeigen. „Es ging ja nie darum, wer oder was ich sein wollte. Die Weichen wurden einfach gestellt. Viele Sachen sind eben passiert“, wird Franziska über diese Zeit einmal sagen. Ihre eigene Mutter verleugnete damals, ihre Mutter zu sein, nur um in Ruhe gelassen zu werden. Und ihr Bruder legte sich zwischenzeitlich sogar eine neue Identität zu und unterschrieb mit Pseudonym. Er wollte nicht mehr der Bruder von Franziska van Almsick sein, dem ersten gesamtdeutschen Sportstar. Derweil spielte Franzi, die von Freunden nur Franz gerufen wird, ihre Rolle ziemlich perfekt: Sie wuchs vom Kinderstar zur Lolita, dann zur Diva. Und wenn es mal nicht so gut lief, dann taugte sie immer noch zur tragischen Heldin. „Sie war unser Star, die Folie unserer Sehnsüchte und Träume. Sie musste leuchten“, schrieb kürzlich die Zeit. Nur Franziska sein, das durfte Franziska van Almsick nie.

Die Werbe-Millionärin

Natürlich machte sich all das für Franziska van Almsick bezahlt. Sie war eine der ersten Sportlerinnen in Deutschland, die für sportfremde Produkte warb. Milka, Opel, Jacobs, Joop – Werner Köster, damals ihr Manager, machte aus dem Sport- auch einen Werbestar. Zuvor war Köster Chefredakteur von Sportbild sowie Sportchef von Bild – er wusste also, welche Medien wie bedient werden müssen, um das zu bewerkstelligen. Heute gilt Franziska van Almsick als reichste Schwimmerin aller Zeiten.

Der Trainer

Nach dem Rennen steht Norbert Warnatzsch, van Almsicks Trainer, in der Mixed-Zone und redet mit den Journalisten. Vor genau vier Jahren ist Franziska van Almsick zu dem 57-Jährigen zurückgekehrt. Damals, nach ihrem Absturz in Sydney, war sie ganz unten, und Kollegen haben Warnatzsch gefragt, ob er bekloppt sei, dass er sich das antue, die Arbeit mit einem abgehalfterten Star. Warnatzsch ist nicht bekloppt, er ist nur ein guter Trainer. Und er hat van Almsick zurückgeführt in die Weltspitze. Nur zwei Jahre später, bei der EM in Berlin, schwimmt sie unter seiner Anleitung wieder Weltrekord über 200 Meter – und wird zur großen Olympiafavoritin. Wenn man böse sein wollte, könnte man also sagen, dass Warnatzsch ein bisschen mit schuld daran ist, dass van Almsick hier in Athen so unter Erfolgsdruck stand. Nun steht Warnatzsch also in der Mixed-Zone und sagt: „Sie hat alles Menschenmögliche getan. Es ist allein meine Schuld. Meine Trainingsmethoden sind zu überprüfen.“ Warnatzsch sagt auch: „Kein Mensch hat das Recht, sie zu verunglimpfen oder schlecht über sie zu schreiben.“

Der Schmierfink

Der, der am schlechtesten über Franziska van Almsick geschrieben hat, sitzt auch im Aquatic Center. Franz Josef Wagner war früher einmal Chefredakteur bei der Berliner B.Z. – und als Franzi in Sydney gescheitert war, schlagzeilte er: „Franzi van Speck – als Molch holt man kein Gold“, bloß weil er Franzi zuvor irgendwo in einer Pizzeria in Berlin eine Pizza essen gesehen hatte. Es ist ein widerlicher Satz von einem widerlichen Menschen – und doch hat er Franziska van Almsick seit Sydney verfolgt. Und wie sehr sie ganz tief im Innern gelitten hat, erfährt man so richtig erst jetzt in Athen, als sie als Fünfte aus dem Wasser steigt und sagt: „Zu fett war ich diesmal nicht.“ Diesmal ist Wagner für Bild bei Olympia, und schon vor dem Rennen hat er Franzi in einem seiner öffentlichen Briefe angeboten, sie dürfe ihm eine Ohrfeige geben – aber nur wenn sie Gold gewinne. Franzi hat kein Gold gewonnen, die Ohrfeige sollte sie ihm trotzdem geben. Und am besten sollte sie ihren Freund, den Handballer Stefan Kretzschmar, mitnehmen, der kann bestimmt klasse zuschlagen.

Der Epilog

Athen werden die letzten Spiele von Franziska van Almsick sein, das hat sie schon angekündigt. Ihren Einzelstart im Halbfinale über die 100 m Freistil hat sie abgesagt. „Die Unvollendete“ hat sie die Berliner Zeitung bereits genannt. Und dann? Was kommt dann? Nach Athen? Franziska van Almsick, mittlerweile 26 Jahre alt und seit 12 Jahren ein öffentlicher Mensch und Star, hat davon eine Ahnung beschlichen, als sie auf den Startblock stieg zu ihrem letzten großen Rennen. „Hoffentlich ist die ganze Scheiße bald vorbei. Dann bist du nicht mehr Mittelpunkt der Nation. Dann kann ich wieder ich selbst sein“, hat sie da für sich gedacht.