Die Riesen aus dem Zwergenstaat

Mit einem 93:84-Sieg über Spanien wird Litauen erstmals seit 64 Jahren wieder Basketball-Europameister

STOCKHOLM taz ■ Der europäische Basketball ist zu seinen Wurzeln zurückgekehrt: Exakt 64 Jahre mussten die Litauer, die schon 1937 und 1939 die besten Korbjäger des alten Kontinents stellten, auf ihren dritten Europameister-Titel warten. Nach dem 93:84 (40:31) gegen Spanien vor 13.274 Zuschauern herrschte schon deshalb nicht nur rund um den Stockholmer Globen eine Art Ausnahmezustand. Von der Einwohnerzahl (knapp 3,7 Millionen) und von der Fläche (65.300 qkm) her ein Zwergenstaat, sind die Balten unter dem 3,05 m hoch hängenden Ring eine Großmacht. Zehntausende tanzten am Sonntagabend auf den Straßen von Vilnius und Kaunas. In der schwedischen Metropole, dem Schauplatz der 33. Eurobasket, waren sowohl in der U-Bahn als auch in den engen Straßenzügen die stakkatohaften „Lietuva, Lietuva“-Rufe zu hören. Die Anhänger nahmen zum Teil eine 25-stündige Auto- und Fährfahrt in Kauf, um ihre Idole zu unterstützen. Eine sonst eher unbeachtete Nation feierte sich selbst und genoss sichtlich das Rampenlicht. „Ich bin“, sagte Sarunas Jasikevicius, Chefdirigent eines insgesamt famosen Orchesters, „ich bin glücklich, dass wir unseren Fans etwas Gutes tun konnten“. Die hatten nämlich seit der EM 2001 in der Türkei entsetzlich gelitten. Platz zwölf in der Endabrechnung von Istanbul, noch dazu das Aus gegen die baltischen Brüder aus Lettland – für Litauen glich dies einem nationalen Trauma.

Für diese Schmach wollte sich die Mannschaft des listigen Trainers Antanas Sireika in Schweden unbedingt revanchieren; es ging in Norrköping und Stockholm also um die Wiederherstellung der basketballerischen Ehre. Dieses wiederum basiert vornehmlich auf der großen Tradition. Ballzauberer wie etwa Arvydas Sabonis, Sarunas Marciulionis oder Rimas Kurtinaitis verpflichten die Nachfolger quasi zu Heldentaten. „Bei uns ist Basketball Nummer eins. Schon als kleine Jungs haben wir zu Sabonis oder Marciulionis aufgeschaut“, verrät Jasikevicius. Eine höfliche Umschreibung des kollektiven Taumels, der keine Grenzen zu haben scheint. Basketball ist Religion und elektrisiert die Massen – schon allein aus Gründen der sozialen Aufstiegschancen.

Die Ressourcen sind dementsprechend enorm. Durch eine beneidenswerte Infrastruktur mit unzähligen Sportzentren, allein über 300 fest angestellten Jugendtrainern (zum Vergleich: 200 Hauptamtliche sind es in Deutschland) und einem ausgetüftelten Ligasystem sammeln die Talente von Kindesbeinen an mannigfaltige Erfahrungen. Nationaltrainer und EM-Novize Sireika hat zuvor Jahre lang Jugendliche betreut. Sein Patentrezept: „Sie müssen bis zu acht Stunden täglich hart trainieren und sich vor allem aufopfern können.“ Rund 5.000 aktive Basketballer gibt es in Litauen. Die erste Liga zählt zehn, die zweite Liga 16 und die dritte Liga, in zwei Staffeln unterteilt, jeweils 18 Mannschaften. Grundschule, Klasse statt Masse und Wettkampforientierung heißen die Schlagworte. Und selbst die großen Stars engagieren sich für das Gesamtkonzept. Im basketballerischen Herzstück Kaunas unterhält 2,21-m-Hüne Arvydas Sabonis eine Schule für 800 Kinder, das Pendant in der Hauptstadt Vilnius von Sarunas Marciulionis beherbergt gar 1.000 Nachwuchskorbjäger. Sabonis hat unlängst ein 7-Millionen-Dollar-Jahresvertrag beim NBA-Klub Portland Trail Blazers ausgeschlagen und ist zum Kultverein Zalgiris Kaunas zurückgekehrt.

Ein Basketballer aus „Lietuva“ bürgt für Qualität, deshalb wird er in die weite Welt geschickt. 80 Litauer spielen derzeit für Colleges oder High Schools in den USA. Die Nationalspieler agieren vornehmlich bei europäischen Topteams. So wie Aufbauspieler Sarunas Jasikevicius, der nach dem Gewinn des EM-Titels, dem Triple (Europaliga, Meisterschaft, Pokal) mit dem von Trainer-Guru Svetislav Pesic betreuten FC Barcelona, der Wahl zum wertvollsten Spieler sowie der Wahl ins EM-All Star Team übers ganze Gesicht strahlte: „Ich bin zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort und im richtigen Team gewesen. Ich denke, das Timing war ganz okay diese Saison.“

Keine Frage: Litauen ist nach den drei Bronzemedaillen bei den Olympischen Spielen von Barcelona, Atlanta und Sydney ein würdiger Europameister. Obwohl die Equipe um Routinier und Kapitän Saulius Stombergas auf NBA-Center Zydrunas Ilgauskas verzichten musste, da der litauische Verband eine Versicherungsprämie von 216.000 Dollar nicht zu zahlen vermochte, setzte sie sich souverän durch. Die Balten lösten den „gordischen Knoten“ gegen Angstgegner Lettland (92:91 n.V.), tankten Selbstvertrauen gegen Deutschland (93:71), schalteten Titelverteidiger Serbien und Montenegro (98:82) sowie im Halbfinale Mitfavorit Frankreich (74:70) aus. Sie verfügten über die beste Offensive, vor allem aber über eine Verteidigung mit hoher Intensität und Variabilität. Fünf Spieler (darunter vier der ersten Fünf) schieden in einem stimmungsvollen Endspiel mit Foulhöchstzahl aus. Kein anderes europäisches Team hätte einen derartigen Aderlass innerhalb eines Matches verkraftet. „Das ist ein Zeichen, wie tief unsere Bank eigentlich besetzt ist“, so Energiebündel Jasikevicius. Donn Nelson von den Dallas Mavericks, immerhin seit 1992 Assistenztrainer der Litauer, über das Erfolgsgeheimnis: „Wir können ohne Qualitätsverlust zwölf Spieler einsetzen.“ JOACHIM KLAEHN