Produktive Zone der Leere

Die einen klagen über Stress an ihrem Arbeitsplatz, die anderen haben mehr Zeit als ihnen lieb ist und sehen sich in Zeiten von Harz IV als faul und als bloße Steuerlast geschmäht. Dabei täte es allen nur gut, einen Gang runterzuschalten. Ein Lob des Müßiggangs

von ANGELIKA FRIEDL

Günter T. liegt auf der faulen Haut. Würden manche sagen. T. lebt von Arbeitslosenhilfe und kleinen Jobs zwischendurch, die er der Agentur für Arbeit, ehemals Arbeitsamt, aber nicht meldet. Der monatliche Geldfluss rinnt spärlich, andererseits erhält er als ehemalige Führungskraft deutlich mehr staatliche Unterstützung als andere Arbeitslose. Er weiß, dass sich für ihn im nächsten Jahr mit Einführung von Hartz IV die Lage erheblich ändern wird.

T. trifft sich gerne mit seinen Freunden. Morgens joggt er, wenn es das Wetter zulässt, einen Kino- oder einen Konzertbesuch hin und wieder kann er sich auch noch leisten. Arbeit hätte er trotzdem gerne, aber bitte schön nicht irgendetwas für einen Hungerlohn, sondern einen anspruchsvollen, gut bezahlten Arbeitsplatz. Günter T. gehört zu den Millionen von Menschen in Deutschland, die womöglich nie mehr vollzeit arbeiten werden, zumal er fast Mitte vierzig ist. Trotzdem ist er ganz zufrieden mit seinem Leben. Ihn plagt auch kein schlechtes Gewissen, jenes nagende Gefühl, etwas Unrechtes zu tun, auf Kosten anderer zu leben, während man selbst gemütlich eine Tasse Capuccino trinkt, und alle um einen herum im Schweiße ihres Angesichts arbeiten.

Auch wenn die protestantisch-kapitalistische Arbeitsethik immer mehr Anhänger verliert: Müßiggänger haben noch immer einen schlechten Ruf. Daran hat auch die angebliche Spaßgesellschaft nichts geändert. Faul wollen wir nicht sein, weil sich unsere Gesellschaft über die Arbeit und das Habenwollen, den Konsum, definiert. „Keiner hat ein Recht auf Faulheit“, verkündete Bundeskanzler Schröder vor einiger Zeit. Kaum jemand hat protestiert. „Arbeit muss sich wieder lohnen“, ein beliebter Politikerspruch, auch auf jene gemünzt, die angeblich lieber Sozialhilfe beziehen als für das dasselbe Geld zu arbeiten.

Zwar wird Müßiggang nicht mehr als Versuchung des Teufels gesehen, aber so ganz geheuer ist er dann doch nicht. Einige kämpfen gegen das schlechte Image. Der Verein OTIUM e.V. in Bremen setzt sich in Lesungen, Ausstellungen und Sommerfesten mit der herrschenden Arbeitsmoral auseinander, um den Müßiggang zu erforschen – und zu fördern. Otium (lateinisch) heißt Muße, und diejenigen, die ihr frönen, sind, so der Verein, alles andere als faul. Eine große Anzahl kluger Sprüche auf der Website www.otium-bremen.de stützt die These. „Müßiggang ist nicht das Gegenteil von Arbeit, sondern Müßiggang ist etwas, was aus der Arbeitswelt herausfällt, was weder in die heutige Form von Arbeit noch in die ihr korrespondierende Freizeit einzuordnen ist, er ist ein Zustand, der die Werte der heutigen Arbeits-Freizeit-Gesellschaft für sich nicht mehr anerkennt...“ (Erich Ribolits, „Die Arbeit hoch“, 1995).

Dass Freizeit tatsächlich manchmal Arbeit bedeutet, beweist die Freizeitindustrie. Sie rüstet vom Golfer über den Bungeespringer bis zum Jogger alle Sportler perfekt aus, damit der Vollzeitwerktätige nach einer anstrengenden Arbeitswoche eine aktive, aufregende, und wenn möglich auch noch gesundheitsfördernde freie Zeit erleben kann. Was den Verdacht aufkommen lässt, dass viele es nicht aushalten, am Wochenende oder abends einmal nichts zu tun. Das Gespenst der Langeweile, der horror vacui, kann unerträglich sein. Michel Houellebecq hat diese Leere in „Ausweitung der Kampfzone“ beschrieben: „Aber in Wahrheit kann nichts die immer häufigere Wiederkehr jener Augenblicke verhindern, in denen ihre absolute Einsamkeit, das Gefühl einer universellen Leere und die Ahnung, dass ihre Existenz auf ein schmerzhaftes und endgültiges Desaster zuläuft, Sie in einen Zustand echten Leidens stürzen“.

Nur wer die Zone der Leere und der Stille erträgt und zum Beispiel nachmittags auf dem Sofa liegen kann, ohne sich den schalen Reizen des Fernsehens auszusetzen, hat die Chance, Muße zu erleben. Dann erschafft der Mensch einen freien Raum um sich, bewegt sich jenseits des Effizienzdenkens, und verweilt im Reich des „ästhetischen Anschauens“, das für den Philosophen Michael Theunissen die Möglichkeit ist, die Zeit zu entschleunigen. In diesem Zustand spielt und experimentiert er vielleicht mit sich und der Welt.

Was Muße sein kann und wie fremd uns das Wort geworden ist, beschrieb Heinrich Böll 1963 anschaulich in seiner kleinen „Anekdote zur Senkung der Arbeitsmoral“. Die Geschichte spielt an den Ufern des Mittelmeers. Ein Fischer, offenbar nach getaner Arbeit, döst in seinem Boot. Ein vorbeikommender Tourist fotografiert zwar erst einmal das Idyll, will aber dann den Fischer überzeugen, am selben Tag noch einige Male zum Fischen auf das Meer hinaus zu fahren. Er könne sich doch von dem verdienten Geld später einen Motor kaufen, in zwei Jahren ein kleines Boot, noch später einen Kutter und, und … schließlich eine Marinadenfabrik erbauen und ein Fischrestaurent eröffnen. „Und was wäre dann?“, fragt der Fischer den Touristen. – „Dann“, sagt der Fremde mit stiller Begeisterung, „dann können Sie beruhigt hier im Hafen sitzen, in der Sonne dösen – und auf das herrliche Meer blicken“. – „Aber das tu ich ja schon jetzt“, sagt der Fischer, „ich sitze beruhigt am Hafen und döse, nur Ihr Klicken hat mich dabei gestört.“

Wie der Fischer in Bölls Geschichte führt Günter T., mal mehr, mal weniger, ein Leben in Muße. Mittlerweile kann er es auch genießen, trotz der Existenzängste, die ihn zuweilen plagen. Vermutlich könnte er mit diesem Lebensstil sehr alt werden. Stress erlebt er nicht allzu häufig. Eine gute Ausgangsposition, denn Stress ist nach Untersuchungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) eine der größten Gesundheitsgefahren und verantwortlich für die meisten Herz-Kreislauf-Erkrankungen, für Infarkte, für Schlaganfälle und für psychische Erkrankungen.

Eine Studie der Sporthochschule Köln zeigte kürzlich, dass zwei Drittel aller Berufstätigen nach getaner Arbeit nicht mehr richtig abschalten können. „Die Anspannung wird dann mit in die Freizeit genommen. Das trifft leider besonders für Lehrer zu“, erläutert Hennig Allmer, Leiter des Instituts für Psychologie und Koordinator der Untersuchung. Schon kleinere Unterbrechungen während der Arbeitszeit würden sich positiv auf die Leistung auswirken. Wobei die eine schon nach einer Stunde eine Auszeit von fünf Minuten, die andere erst nach vier Stunden eine Pause von zwanzig Minuten braucht. Wer aber in der Mittagszeit sein Schinkenbrötchen am Schreibtisch verzehrt, und nebenbei seine E-Mails studiert, kommt nicht zur Ruhe. Stattdessen wäre es sinnvoller, ein bißchen spazieren zu gehen, um vielleicht auf andere Gedanken zu kommen und sich frischen Sauerstoff zuzuführen.

Aber das Idealbild des modernen Menschen ist der voll funktionsfähige, überall einsetzbare Machertyp, eine längere Siesta passt da nicht ins System. Auch wenn Dauerstress über einen längeren Zeitraum gefährlich ist. Es beschädigt Gehirnzellen, wenigstens hat es bei Ratten diese Wirkung, wie amerikanische Wissenschaftler vor einigen Jahren herausfanden. Die Forscher setzten die Ratten stressigen Situationen aus, über mehrere Monate fünf Tage in der Woche. Am Ende hatten die armen Tiere doppelt so viele Hirnzellen eingebüßt wie ihre normal belasteten Artgenossen. Der Volksmund wusste ja schon immer: „Wer schnell läuft, läuft nicht lange“. Tatsächlich scheinen diejenigen, die eine gemächliche Gangart bevorzugen, auch ein gesünderes und längeres Leben zu führen als ihre eiligen Zeitgenossen. Konkret bedeutet das: etwa acht Stunden schlafen, mäßig essen, sich mäßig sportlich betätigen, sich warm halten, um Energie zu sparen und natürlich Gelassenheit in allen Lebenslagen.

Wenn eine Kunst nicht mehr richtig beherrscht wird, schlägt die Stunde der Ratgeber und Gurus. Dann erklärt etwa Zeitmanagementexperte Lothar Seiwert in seinem Werk „Das Bumerang-Prinzip. Don‘t hurry, be happy“, wie man in fünf Schritten zum Lebenskünstler wird. Ernie Zelinski kümmert sich in „Die Kunst, mühelos zu leben“, mehr um den nachdenklichen Leser. Aber kann Müßiggang aus Büchern oder in Kursen studiert und erlernt werden? Wer 35 oder 40 Stunden in der Woche arbeitet, eine Familie und gesellschaftliche Verpflichtungen hat, wird die klugen Ratschläge bald vergessen haben und so weiter leben wie bisher. Wer jede Minute des Tages „sinnvoll“ verbringen muss und nie Zeit hat, dem kommt der Gedanke an Muße absurd vor. Aber Muße braucht viel Zeit, damit sie sich entwickeln kann.

Bisher hatte T. diese Zeit. Aber nächstes Jahr wird er noch ein oder zwei kleine Jobs zusätzlich brauchen, um seinen Lebensstandard halten und am sozialen Leben teilhaben zu können. Und sich damit vielleicht in die Schar derjenigen einreihen, die von einem Termin zum nächsten jagen. Denn richtig arm will er auch nicht werden.

Mensch müsste verzichten können, einen Teil seiner Arbeit, seines Konsums oder der Freizeitaktivitäten reduzieren. Mensch müsste Muße mehr schätzen als all die scheinbar unentbehrlichen Statussymbole. So wie der Fischer in Bölls Geschichte. Unwahrscheinlich, dass sich viele freiwillig auf einen solchen Lebensstil einlassen. Wer kann das wirklich genießen: stundenlang in den Himmel zu gucken, planlos einen langen Spaziergang zu machen, einmal in den Tag hinein zu leben, es aushalten, nicht so ganz perfekt zu sein. Schon Epikur klagte vor über zweitausend Jahren: „Über dem Aufschieben schwindet das Leben dahin, und mancher von uns stirbt, ohne sich jemals Muße gegönnt zu haben“.

ANGELIKA FRIEDL, 45, ist freie Autorin in Berlin