THIERSES VERGLEICH HINKT: OSTDEUTSCHLAND IST NICHT OSTEUROPA
: Blühende Kleingartenlandschaften

Die neuen Bundesländer schaffen es einfach nicht – sie kommen wirtschaftlich nicht an die alten heran. An einen baldigen Aufschwung glaubten die meisten Ostdeutschen nicht mehr, stattdessen demonstrieren sie montags gegen den drohenden privaten Abstieg. In dieser Situation empfiehlt Bundestagspräsident Wolfgang Thierse (SPD) seinen Mit-Ossis die Strategie des Regenwurmes: Immer schön am Boden bleiben. Statt ständig auf die alten Länder zu schielen und sich illusionären Vorstellungen hinzugeben, sollten die Menschen doch auch gen Osten schauen, zum Beispiel nach Polen.

Sicher, der Blick über die Oder vermag die Unzufriedenheit Ost zu relativieren – aber er ist kurzsichtig. Nach dem Boom der 90er stagniert in Polen das Wirtschaftswachstum. Die Arbeitslosigkeit ist auf 20 Prozent geklettert. Doch anders als diesseits der Oder sind persönliche Risiken sozial kaum abgefedert: Wer arbeitslos wird, hat sechs Monate lang Anspruch auf rund 120 Euro. Danach ist Eigeninitiative gefragt. Die Zeiten sind vorbei, in denen der Stolz dominierte, es „aus eigener Kraft“ geschafft zu haben. Heute dagegen macht die Retrowelle auch vor den Erfindern von Solidarność und rundem Tisch nicht mehr halt. Und die Verklärung „goldener sozialistischer Zeiten“ nimmt zu. Denn knapp über die Hälfte aller polnischen Haushalte leben unterhalb des sozialen Minimums: von weniger als 150 Euro im Monat.

Die Betroffenen reagieren mit Rückzug. Die Landwirtschaft ist zum Auffangbecken für Arbeitslose und Alte geworden. Hinter dem Haus pflanzen sie Kohl für den Kochtopf, die Kuh vom Nachbarn produziert Milch, die gegen Kartoffeln getauscht wird. Die Subsistenzwirtschaft blüht dank der traditionellen ländlichen Strukturen in Polen – Strukturen, die es in der Ex-DDR seit der Kollektivierung der Landwirtschaft nicht mehr gibt. Der Vergleich mit Polen mag zwar die soziale Lage der Ostdeutschen entdramatisieren, aber wegweisend ist er nicht. Es sei denn, Thierse will den Ostdeutschen raten, sich künftig auf ihre Laubenlandparzellen zu konzentrieren. Und blühende Kleingartenlandschaften zur Vision erheben. ANNA LEHMANN