Aufs falsche Vorbild fixiert

Zu spät merken die Ruderer des deutschen Achters im olympischen Rennen, dass sie sich besser nicht an Weltmeister Kanada orientieren sollten. Am Ende bleibt der vierte Platz, Sieger werden die USA

„Vier Jahre trainiert wie die Hunde, und jetzt nicht einmal eine Belohnung“

AUS ATHEN FRANK KETTERER

Brian Price ist ein ziemlich kleiner Mann, nur 1,63 Meter misst er, aber für einen Steuermann im Achter ist das nichts wirklich Außergewöhnliches. Was der kleine Mann aus Kanada nun aber zu sagen hatte, packte er in ziemlich große Worte, die seiner noch größeren Enttäuschung Ausdruck verleihen sollten. Price sagte: „Als die Siegerehrung begann, zog es mich wie magisch zu ihr hin. Dass ich dann doch nicht dabei sein durfte, ist sehr traurig. Ich kann das immer noch nicht verstehen.“ Dann schaute er hinüber auf das Podest der Sieger, wo sich die Ruderer aus den USA, den Niederlande und Australien die Medaillen um den Hals und die Kränze der Sieger auf den Kopf setzen ließen – genau in dieser Reihenfolge war das olympische Achterrennen zu Ende gegangen.

Man muss verstehen, dass Brian Price sich das nicht länger antun wollte und stattdessen die Einsamkeit suchte, um seinen Frust zu verarbeiten. In den letzten drei Jahren war sein Boot so gut wie unschlagbar. Weltmeister 2002 in Sevilla und ein Jahr später in Mailand. Und jetzt, ausgerechnet beim wichtigsten Rennen ihres Lebens, hatten sie die Kräfte verlassen oder die Nerven oder was auch immer, und sie waren Sechster geworden. Nur Sechster bei Olympia – da darf man schon ein bisschen melancholisch werden.

Das Drama des Brian Price auf dem Schinias-See besiegelte freilich auch das Schicksal der deutschen Rudergemeinschaft. Drei Jahre lang waren sie den Kanadiern hinterhergerudert, Kanada war das Nonplusultra, und, so jedenfalls war der Plan der Deutschen, wenn sie im olympischen Rennen den Kanadiern möglichst lange und nahe auf den Fersen bleiben würden, dann würde ihnen eine Medaille keiner mehr nehmen können. „Klar waren wir auf die Kanadier fixiert“, gab Bundestrainer Dieter Grahn nach dem Rennen zu.

Entsprechend gestalteten die Deutschen ihr Rennen: Gewohnheitsgemäß flott starteten die Kanadier, also tat es auch der Deutschland-Achter. Und siehe da, bei 500 Metern war alles gut: Die USA lagen knapp vor Deutschland, und Deutschland lag knapp vor Kanada, der Plan schien aufzugehen. Auch bei der 1.000-m-Marke war noch „alles im grünen Bereich“, wie Bundestrainer Grahn später analysierte. Was hieß: USA vor Australien vor Kanada vor Deutschland, aber alle noch dicht beieinander, von den davongezogenen Amerikanern einmal abgesehen. Deutschland war noch dran an Kanada und somit an der Medaille, und nur darauf kam es an, jedenfalls dachten sie das. „Und dann begann das Rennen von Neuem“, sagte Dieter Grahn später – und wie es sich entwickelte, war nicht gut für die Kanadier, und für die Deutschen somit auch nicht. Nach 1.500 Metern war klar, dass der Olympiasieg an die USA gehen würde. Es war aber auch klar, dass Kanada Probleme hatte, große Probleme. Vierter waren sie zwar immer noch, aber schon knapp zwei Sekunden entfernt von einem Medaillenrang. Und knapp hinter den Kanadiern lagen die Deutschen, sie hatten es ja so geplant – und wer hätte vorher ahnen sollen, dass dies zu ihrem Unglück werden sollte?

Auf den letzten 500 Metern brach Kanada gänzlich ein, Deutschland zog vorbei. Zum ersten Mal überhaupt besiegten sie das Nonplusultra, aber es herrschte keine Freude darüber. Freude herrschte in den Booten nebenan, in denen von USA, den überraschend starken Niederländern und den Australiern. Dort wurde gefeiert, hin und wieder ging sogar ein Mann über Bord. Im deutschen Boot saßen nur neun reglose Gestalten, die kopfschüttelnd vor sich hin starrten. „Wir sind hierher gekommen, um eine Medaille zu gewinnen, und jetzt so etwas“, sagte später Jörg Dießner. „Vierter, das ist das Schlimmste, was es gibt. Wir haben vier Jahre trainiert wie die Hunde, und jetzt haben wir noch nicht einmal eine Belohnung dafür.“ Stephan Koltzk befand: Wir haben alles gegeben und man kann nicht sagen, dass wir schlecht gerudert sind. Aber es hat nicht gereicht.“ Und auch Bundestrainer Grahn schien ein bisschen ratlos: „Dass Kanada am Ende über neun Sekunden hinter dem Sieger liegt, ist doch unglaublich. Das ist ein Klassenunterschied. Dafür fehlen mir ein bisschen die Erklärungen.“ Von seiner Mannschaft und den knapp sechseinhalb Sekunden Rückstand auf die USA sprach er nicht.

Die Rede wird auch so noch darauf kommen, schließlich ist der Achter nicht irgendein Boot in der Flotte des Deutschen Ruder-Verbandes (DRV), sondern das Aushängeschild, manche reden gar vom Mythos. Deshalb ist Dieter Grahn ja überhaupt erst Bundestrainer geworden vor vier Jahren, als sich das deutsche Mythen-Boot nicht für die Spiele in Sydney qualifiziert hatte und Ralf Holtmeyer, davor jahrelang erfolgreich, seinen Hut nehmen musste. Vier Jahre hatte Grahn Zeit, seinen Achter zu bauen, seine Arbeit glich dem mühsamen Zusammensetzen eines Mosaiks, weil in so einem Boot Steinchen zu Steinchen passen muss, sonst funktioniert das große Ganze nicht. Jetzt sind die vier Jahre rum, und auch Grahn steht mit leeren Händen da und wird neue Steinchen suchen und einbauen müssen. „Die Karten werden neu gemischt“, hat er in Athen gesagt. „Der Achter, wie wir ihn hier gesehen haben, wird so nicht mehr bestehen.“

Wer kommen wird und wer gehen, kann er freilich noch nicht sagen, auch die Sportler selbst wissen ja nicht, ob sie sich die ganze Schinderei noch mal antun, bis zu den Spielen in Peking ist es ja noch lang. „Wer keine Medaille hat, muss eigentlich noch weiter machen“, sagt Stefan Koltzk, und es klingt so, als wolle es der 26-Jährige noch einmal probieren. Es gibt aber auch andere Stimmen, so wie die von Jörg Dießner. Dießner ist 27 und sagt: „Ich weiß nicht, ob ich mich noch mal vier Jahre lang so quälen will.“