Die Armut in Deutschland nimmt weiter zu

Statistiker sehen einen „relativen Abstieg“ in der Bundesrepublik. Dieser Trend dürfte sich noch verschärfen

BERLIN taz ■ Das soziale Klima wird rauer in Deutschland. „In der Summe zeichnet sich eine durch zunehmende Armut und Ungleichheit gekennzeichnete Gesellschaft ab“, sagte Heinz-Herbert Noll, Mitautor des Datenreports für die Bundesrepublik. Das Statistische Bundesamt und andere Institute präsentierten gestern zum zehnten Mal die Ergebnisse der zweijährlichen statistischen Generalerhebung.

Auffällig viele Indizien wiesen darauf hin, dass sich die Lebensqualität verschlechtert habe, erläuterte Noll die Daten aus dem Jahr 2002. Die Armut habe zugenommen und die Einkommen drifteten auseinander. Noll sprach von einer „Trendwende“. 13,1 Prozent der Deutschen leben von weniger als 780 Euro monatlich und gelten somit als arm. Im Jahr zuvor waren es noch 12,5 Prozent. In den neuen Ländern stieg der Anteil der Armen von 15,5 auf 16,7 Prozent. Diese Zahlen seien deshalb bedenklich, weil der Anstieg in den vorangegangen Jahren durch staatliche Transfers gebremst worden sei. Das ärmste Fünftel der Gesellschaft hatte 2002 nur 9,3 Prozent der gesamten Einkommen erhalten, während ihm 2001 immerhin noch 9,7 Prozent zufielen. „Infolge der Einschnitte im sozialen Bereich wird man damit rechnen müssen, dass Armut und Ungleichheit weiter zunehmen“, sagte der Soziologe.

Da wundert es nicht, dass die Lebenszufriedenheit sinkt. Insgesamt sind 51 Prozent der Befragten unzufrieden mit der Gesellschaft. Am schlechtesten ist man in Ost und West auf die soziale Sicherung zu sprechen, und dies zwei Jahre vor Beginn der Anti-Hartz-Demos im Jahre 2002. An die Verbesserung der eigenen Lage glaubt nur ein Viertel der Westdeutschen, im Osten jeder Fünfte.

Ungleich sind auch die Bildungschancen. Hier attestieren die Sozialwissenschaftler dem deutschen Schulsystem die gleichen Schwächen, die auch die Autoren der Pisa-Studie diagnostiziert haben. Kinder aus höheren Schichten hätten statistisch eine neunmal so große Chance wie Arbeiterkinder, das Gymnasium zu besuchen, fasste Noll zusammen. Die Chancengleichheit im Westen stagniere. Auch der Osten sei mittlerweile auf diesem Niveau. „Der Einfluss der sozialen Herkunft auf den Bildungs- und Berufsweg hat sich enorm verstärkt, besonders bei Frauen“, stellte Noll fest.

„In Deutschland ist ein relativer Abstieg zu verzeichnen“, lautet die Bilanz Nolls. Und das trübt auch die Stimmung der Deutschen. Beim subjektiven Wohlbefinden landeten sie im europäischen Vergleich im hinteren Drittel. ANNA LEHMANN