Das Ende der schönen Zeit

Eine Verletzung stoppt den Versuch des 37-jährigen Diskuswerfers Lars Riedel, seine dritte Olympiamedaille zu holen, und die Frage stellt sich, ob dies der Schluss einer großen Karriere war

AUS ATHEN FRANK KETTERER

Der Wettkampf war lange schon zu Ende und der Ungar Robert Fazekas längst zum Olympiasieger im Diskuswerfen gekürt worden, da war von Lars Riedel noch immer nichts zu sehen. Draußen vor der Tür des Medical Centers wartete ein gutes Dutzend deutscher Journalisten auf den Hünen aus Chemnitz, und jedes Mal, wenn die Tür zur medizinischen Abteilung im Bauch des Olympiastadions aufging, reckten sie ihre Hälse. Ärzte gingen ein und aus, auch Karlheinz Steinmetz, Riedels Trainer, wuselte aufgeregt umher, was einem Mann mit seinem Bauchumfang bestimmt gar nicht so leicht fällt. Dann, nach gut einer Stunde, erschien Riedel doch noch im Türrahmen – und ein bisschen ist man bei diesem Bild erschrocken: Wie dieser große, stolze Mann sich auf die Schultern zweier Pfleger stützen musste, um mit ihrer Hilfe zum bereitstehenden Fahrzeug zu gelangen. Riedel humpelte an den Menschen von der Presse vorbei, dann stieg er ins Innere des blauen Wagens und wurde von dannen chauffiert. Gesagt hat er nichts, kein Wort.

Was hätte er auch von sich geben sollen in diesem wirklich traurigen Moment? Die Ärzte waren sich noch nicht ganz sicher, ob es sich bei der Adduktoren-Verletzung, die im dritten Versuch aufgebrochen war, um eine Zerrung oder um einen Abriss handelte. Und ganz bestimmt hätte ihm die versammelte Journaille jene Frage gestellt, die er sowieso nicht beantworten kann: Herr Riedel, wie geht es jetzt weiter?

Am späten Montagabend im Athener Olympiastadion ist Lars Riedel vor dieser Frage humpelnd geflüchtet. 37 Jahre ist er jetzt alt, da strebt die Karriere allmählich dem Ende zu. Riedel weiß das, natürlich. Aber er versucht es zu ignorieren. Er hat schließlich sein Leben lang nichts anderes getan, als Disken zu schleudern. Er kann nichts besser als das. Und es gab Zeiten, da konnte es überhaupt niemand besser als er. Olympiasieger war Riedel 1996 in Atlanta, Silber gewann er vier Jahre später in Sydney, dazu fünf Weltmeistertitel. Und auch hier in Athen hatte er eine Medaille im Visier. Dass es für Gold und Silber nicht reichen würde, wusste Riedel schon im Vorhinein: Der Ungar Robert Fazekas und der Litauer Virgilijus Alekna, am Ende Zweiter, sind schon eine ganze Zeit lang unantastbar für den Deutschen, aus welchen Gründen auch immer. Bronze aber hatte er schon im Blick. Bronze ging mit 67,04 m an den Ungarn Zoltan Kovago. Vor drei Wochen in Zürich hatte Riedel 67,90 m geworfen.

Aber das hilft jetzt nichts mehr – und es ändert nichts an der Frage: War’s das? Karlheinz Steinmetz, der Mann mit dem dicken Bauch, hält in seiner Wuselei inne. Der 62-Jährige hat Riedel in den Westen geholt, damals, gleich nach der Wende – und er hat ihn zum besten Diskuswerfer der Welt geformt. Die beiden sind ein bisschen wie Vater und Sohn, vielleicht sogar mehr: Die beiden sind Freunde. Jetzt sieht Steinmetz sehr aufgeregt und betroffen aus. Er sagt: „Es war eine schöne Zeit, aber sie wird leider bald zu Ende gehen.“ Wann dieses „bald“ sein wird, lässt der 62-Jährige allerdings offen. Steinmetz sagt auch: „Hoffentlich kann Lars seine Karriere überhaupt fortsetzen.“

Vielleicht wäre es besser, wenn der Freund dem Freund anderes raten würde, ziemlich wahrscheinlich sogar ist das der Fall. Die Verletzung ist schließlich nicht die erste in Riedels Karriere, ganz im Gegenteil: Sie ist der vorläufige Schlusspunkt einer langen Serie. Der Rücken bereitet permanent Probleme, der Lendenbereich und die Schulter nicht minder, Kniebeugen kann Riedel schon seit zehn Jahren nicht mehr machen. „Mit Schmerzen kämpfen wir doch seit Jahr und Tag“, sagt Steinmetz, auch die Verletzung von Olympia ist nicht erst in Athen aufgetreten, sondern im Vorfeld. Schon den letzten Leistungstest im heimischen Kienbaum konnte Riedel nur mit einer schmerzstillenden Spritze absolvieren. „Wir dachten, dass wir die Sache im Griff haben“, sagt Steinmetz, aber es war nicht so, schon beim Einwerfen spürte Riedel, dass es wieder zwickt, beim dritten Versuch kam es schließlich zur „Katastrophe“, wie der Trainer die neuerliche Verletzung nannte. Gestützt und humpelnd musste Riedel Olympia verlassen.

Also noch einmal: Wäre es nicht besser, wenn Lars Riedel, der einmal der beste Diskuswerfer der Welt war und immer noch ein verdammt guter ist, einfach aufhört und sein Leben genießt, soweit das sein geschundener Körper noch zulässt? Karlheinz Steinmetz sieht etwas entsetzt aus, wenn man ihm die Frage stellt. Er brummelt: „Karriereende, Karriereende, was soll ich dazu sagen?“ Dann flüchtet er in den Bauch des Olympiastadions. Ins Medical Center.