Tatort Worms

Das Nibelungenlied, diese deutsche Urerzählung von Liebe und Leidenschaft, von Spielen und Intrigen, Mord und Verstrickungen bis hin zum Untergang, spielt hauptsächlich in der Stadt Worms

Mit dem unterirdisch gelegenen „Mythenlabor“ hat das Nibelungenmuseum ein neues multimediales Infozentrum eingerichtet. Hier haben Besucher die Möglichkeit, in speziellen Bild- und Audiodatenbanken zu den Sagenwelten und zur Historie zu stöbern. www.nibelungenmuseum.de und www.worms.de

VON CHRISTEL BURGHOFF

Was den Engländern die Ritter der Tafelrunde, das sind den Deutschen die Nibelungen. Halb mythischer Stoff, halb echt, irgendwo in frühen, unbestimmten Zeiten angesiedelt, und den Dichtern, die die Sagas zu Papier brachten, mehr oder weniger vom Hörensagen bekannt. Es sind Erzählungen, die ins nationale Selbstverständnis eingegangen sind. Das Nibelungenlied, diese deutsche Urerzählung von Liebe und Leidenschaft, von Spielen und Intrigen, Mord und gnadenlosen Verstrickungen bis hin zum Untergang wurde um 1200 verfasst. Sie spielt hauptsächlich in den ehemaligen Mauern der Stadt Worms am Rhein. Auf den Stufen des alten Doms hat die sagenhafte Geschichte von den Nibelungen die entscheidende Wende zum tragischen Ende des ganzen Volkes genommen. Als nämlich die Wormser Kriemhild, damals bereits Frau des Drachentöters Siegfried, vor ihrer Schwägerin, der Königin Brünhild, den Vortritt zum Dom verlangte. Da ging der Ärger, der schließlich zum Showdown bis nach Ungarn führte, richtig los.

Den Dom gibt es heute noch. Komplett. Er hat so ziemlich als einziges Bauwerk von Worms die Zerstörungen des letzten Krieges gut überstanden. Man kann den Ort des Geschehens also original in Augenschein nehmen. Das spektakuläre Gerangel der Damen spielte sich am unscheinbaren nördlichen Eingang, dem Eingang der Könige, ab. Es waren gerade mal vier Treppenstufen, auf denen die schöne Welt des burgundischen Königshauses aus den Fugen geriet.

Auf den ersten Blick völlig unspektakulär ist auch das Nibelungenmuseum, das die Stadt Worms ihren berühmten Bewohnern aus der Ära der Legenden gewidmet hat. Es ist ein Stück übrig gebliebener Stadtmauer mit zwei alten Türmen. Neu und modern ist nur der vorgebaute Eingangsbereich. Diese minimalistische Museumsidee zeigt innen großartige Effekte. Man braucht nur langsam die Stufen des ersten düsteren Turms hinaufzusteigen. Vom ersten Treppenabsatz an überrascht das mythische Mittelalter. Fabelwesen kobolzen wundersam herum, Nebel wabert in den Untiefen von Mooren und in den Tiefen germanischer Wälder, Siegfried, der superblonde Held, darf noch einmal im Blut des getöteten Drachens baden und den giftigen Zwerg Alberich vermöbeln. Augen rollen, Schwerter sausen nieder. Jede Geste pure Dramatik.

Im dunklen Turm liefert auf jedem neuen Treppenabsatz ein Monitor hochdramatische Schwarz-Weiß-Szenen aus Fritz Langs Stummfilmklassiker. Langs Nibelungenverfilmung von 1923/24 hat faszinierende Bilder parat, die heute fast noch fremdartiger wirken als der Nibelungenstoff selbst. Kommt man näher, klinkt sich automatisch die Stimme des Schauspielers Mario Adorf in den Kopfhörer des tragbaren Museumsführers ein. Und damit beginnt auch eine sagenhafte Hörgeschichte, die über zwölf Stationen bis zur Turmspitze führt. Der Erzähler schlüpft in die Rolle des bis heute unbekannten Verfassers der voluminösen Saga: Anonymus alias Adorf sitzt seit 800 Jahren im Himmel, aber er hat genau aufgepasst, was seither auf der Welt und mit seiner Dichtung so alles passiert ist. Voller Verve kommentiert er das Geschehen auf den Monitoren bis zum bitteren Ende der Nibelungen durch die grauseligen Hunnen. Wie es zur Geschichte mit dem Schatz kam, was man von der isländischen Brünhild halten kann oder vom königstreuen Hagen von Tronje, alles wird frisch erzählt. Anonymus ist kämpferisch. Dass die burgundische Königstochter Kriemhild mit ihren schweren blonden Zöpfen zum Inbegriff der deutschen Frau mutierte, befremdet ihn. Für Richard Wagners eigenwillige Opernerzählungen hat er – als seriöser Dichter – wenig übrig, vor allem empört ihn jedweder politischer Missbrauch seines Stoffs.

Auch wer die Entgleisungen deutscher Nationalisten des 19. und frühen 20. Jahrhunderts nicht näher kennt, ahnt nach dem spektakulären Turmaufstieg: So richtig gut fühlt sich heutzutage kaum jemand mit diesem „Schicksalslied der Deutschen“. Die Nähe zur Soap Opera mag einer der Gründe sein, vor allem aber erinnert das Nibelungenlied an die politische Dummheit einer Generation, die sich dem Nationalsozialismus verschrieben hatte und sich mit Schwulst und Durchhalteparolen aus dem Nibelungenlied noch ihren sogenannten heldenhaften Untergang schönredete. Das alles hat, wie Anonymus alias Mario Adorf meint, mit der „Tragik“ der alten Dichtung nichts zu tun.

1. Kriemhild und Siegfried sind ein Traumpaar. Die burgundische Schönheit ist die Schwester dreier Wormser Königsbrüder. Siegfried, der attraktive Drachentöter, stammt aus Xanten am Niederrhein. Siegfried hat den Nibelungenschatz erbeutet und eine Tarnkappe.

2. Um als Schwager akzeptiert zu werden, hilft Siegfried Kriemhilds Bruder, König Gunther, bei der Werbung um die bärenstarke Isländerin Brünhild. Unerkannt durch seine Tarnkappe steht er Gunther im Wettkampf bei.

3. Gunthers Hochzeitsnacht geht daneben. Statt Sex erlebt er die Nacht an einem Wandhaken, wo ihn die misstrauische Brünhild hingehängt hat. Wieder hilft Siegfried unter seiner Tarnkappe aus. Brühwarm erzählt Siegfried die ganze Geschichte seiner geliebten Kriemhild.

4. Auf Besuch in Worms prahlt Kriemhild vor Brünhild mit ihrem Helden. Auf den Stufen des Doms kommt es zum Eklat.

5. Plaudertasche Siegfried ist den Wormsern zum Problem geworden. Hagen, der politische Kopf König Gunthers, bringt Siegfried um und versenkt den Schatz der Nibelungen im Rhein.

6. Ihres Mannes und ihres Reichtums beraubt, verheiratet sich Kriemhild neu im fernen Ungarn mit dem Hunnenkönig Etzel/Attila. Sie denkt an Rache.

7. Als viele Jahre später König Etzel die burgundische Verwandtschaft Kriemhilds nach Ungarn einlädt, glaubt niemand außer Hagen mehr an eine Vergeltung. 10.000 Burgunden ziehen in ihren Untergang.

8. Massaker auf Etzels Burg. Die Nibelungen hatten Kriemhild die Herausgabe des Siegfried-Mörders verweigert. Eigenhändig schlägt Kriemhild Hagen den Kopf ab. Dafür haut sie der alte Kämpfer Hildebrand mit Billigung König Etzels in Stücke. Kein Burgund überlebt. CH. BURGHOFF

Das Nibelungenlied entstand zwischen 1200 und 1205. Es zählt 39 Kapitel mit rund 2.400 Strophen. Sein Verfasser ist unbekannt. Vermutlich war es die Auftragsarbeit eines Bischofs aus Passau.

Das Nibelungenlied ist kompliziert. Es kennt weder den heutzutage so beliebten schlichten Kampf „Gut gegen Böse“, noch kennt es echte Helden. Nirgends ein edler Parzival auf Gralssuche, erst recht kein charmanter Aragorn wie aus dem „Herrn der Ringe“. Der sonnige Siegfried war nicht der Klügste. Und Kriemhild? Wie groß war ihre „Schuld“ am Untergang ihres Volkes tatsächlich? Die Frauen, Kriemhild wie Brünhild, wurden betrogen von unbekümmerten Machos. Mittelalterliche Egos pflegten eine Gewaltkultur, in der die Verwicklungen zwangsläufig eskalierten. Der Dichter hat sie konsequent zu Ende gebracht.

Wer jetzt weiter über die Stadtmauer zum zweiten Turm geht, erlebt eine kleine Zeitreise. Alte Stadtansichten zeigen Worms zu verschiedenen Zeiten. Schließlich kommt man in der Zeit an, in der die Dichtung entstand, ungefähr um 1200. Es war die Zeit der Minnesänger – und der Kreuzzüge. Der wirkliche Dichter, der die zahlreichen Schauplätze des Nibelungenliedes so genau beschrieb, hat vielleicht an jenem desaströsen Kreuzzug teilgenommen, auf dem der legendäre Kaiser Barbarossa 1190 beim Baden im Fluss ertrank. Man zog damals der Donau entlang nach Jerusalem. Ob der Dichter dabei war, ist, wie seine Identität, jedoch reine Spekulation.

Im zweiten Turm widmet sich Anonymus seiner Dichtung selbst. Er spricht über seine Zeit, seine Quellen, seine Kollegen. Auf stilisierten Königsstühlen sitzend lässt sich im zweiten Turm den wundersam melodischen Versen lauschen, dem Klang des Mittelhochdeutschen, in dem die Dichtung verfasst ist. Dabei erstaunt es fast, dass die alten Sagen auch auf echte Menschen und Begebenheiten zurückgreifen. Die historischen Burgunden etwa hatten unter einem König Gunther ihren Sitz in Worms. Sie wurden 436 im Kampf gegen die Hunnen aufgerieben. Schauplatz des Untergangs war allerdings nicht das Hunnenreich König Etzels/Attila in Ungarn, sondern die Rheinebene. Restgruppen des Volkes erhielten dann als Verbündete Roms neues Siedlungsland im Raum des Genfer Sees. Dort haben sie sich gehalten. Wer heute bei „Burgunder“ nur an Rotwein denkt, weiß noch nichts über die Nibelungen.