Statistik putzt Platte

Die Wohnungslosenzahl im Ruhrgebiet ist laut Statistik gesunken. Trotzdem prognostizieren Wohlfahrtsverbände für das Jahr 2005 einen Anstieg

„Schätzungen zu Obdachlosenzahlen sind immer interessengeleitet“

VON NATALIE WIESMANN

Mit der Bekämpfung der Obdachlosigkeit sieht es nicht so rosig aus, wie das Land es gerne verkauft, sagen Wohlfahrts- und Obdachlosenverbände. Sie reagieren damit auf eine Aussage der Sozialministerin am Rande einer Veranstaltung mit Straßenkindern aus St. Petersburg. In NRW sei die Zahl der Obdachlosen auf dem niedrigsten Stand seit 40 Jahren, sagte Birgit Fischer (SPD) am Dienstag. Das sei unter anderem ein Ergebnis des Landesprogramms gegen Wohnungslosigkeit und der Bemühungen der Kommunen sowie der freien Wohlfahrtspflege.

Tatsächlich sinkt laut offizieller Statistik die Obdachlosenzahl im Ruhrgebiet seit 1998 kontinuierlich, vor allem in den großen Städten: In Dortmund ging die Zahl der Betroffenen in fünf Jahren von fast 900 auf etwa 350 herunter, im gleichen Zeitraum sind von 814 Obdachlosen in Essen nur noch 324 ohne Bleibe. In Duisburg sank die Zahl der Betroffenen von 2002 auf 2003 um ein Viertel, in Oberhausen und Recklinghausen sogar um ein Drittel.

Die Obdachlosenstatistik führt allerdings nur Menschen auf, die in kommunalen Unterkünften registriert sind. Nicht berücksichtigt werden die Wohnungslosen, die in sozialtherapeutischen Einrichtungen oder auf der Straße leben. Fischer spricht jedoch auch bei dieser Gruppe von einem landesweiten Rückgang um etwa acht Prozent und beruft sich dabei auf die Bundesarbeitsgemeinschaft (BAG) Wohnungslosenhilfe in Bielefeld. „Die Zahlen haben wir für das Ministerium zusammen gefrickelt“, gibt Geschäftsführer Thomas Specht-Kittler zu. Eine wirkliche Schätzung könne für die Region nicht gegeben werden. Auch das Landesamt für Statistik kann das nicht: „Solche Schätzungen sind immer interessengeleitet“, sagt Sprecher Hans Lohmann. „Wir können ja an die meisten Wohnungslosen keinen statistischen Erhebungsbogen schicken.“

Ernst Lange, Chefredakteur der Bochum-Dortmunder Wohnungslosenzeitschrift BODO, kann zwar keine Zahlen vorlegen, ist sich aber sicher, „dass immer mehr Menschen kein Zuhause haben.“ Das prognostiziert auch Norbert Hartmann, Caritas-Referent für Armut in Essen: „Hartz IV wird zu einem Anstieg bei der Obdachlosigkeit führen.“ Dass die Zahlen in den vergangenen Jahren gesunken seien, führt er nur auf die entspannte Wohnungslage zurück, nicht auf die Landesförderung. Anfang des Jahres hat das Land seine Fördermittel für das Programm „Wohnungslosigkeit vermeiden – dauerhaftes Wohnen sichern“ um rund 25 Prozent gekürzt. Dabei würden die Beratungsstellen zurzeit wachsende Zahlen an Menschen verzeichnen, die Angst vor dem Wohnungsverlust hätten, sagt Hartmann. Friedhelm Bergenkopf, Sozialarbeiter in einer Caritas-Begegnungsstätte in Gelsenkirchen, erwartet im kommenden März – nach der Umsetzung von Hartz IV – einen Anstieg der Obdachlosigkeit. Die wachsende Armut zeige sich auch in anderen Bereichen: „An unserem Mittagstisch nehmen heute durchschnittlich 35 Personen teil, letztes Jahr waren es noch 20 bis 25.“

„Wie sich die Lage durch Hartz IV entwickelt, kann niemand sagen“, so Angelika Wahrheit, Sprecherin des Sozialministeriums. Ob die abnehmenden Zahlen der Obdachlosen mit der entspannten Wohnungslage oder dem Landesprogramm zusammenhänge, sei doch egal. „Ich halte nichts von der ganzen Schwarzmalerei.“