Feinde von nebenan

Nach den Verwüstungen der letzten Jahre ist im Osten des Kongo eine Versöhnung schwer

VON DOMINIC JOHNSON

Es ist ein vertrautes Szenario im Afrika der Großen Seen: Angehörige der ruandischstämmigen Banyamulenge-Minderheit im Osten des Kongo werden massakriert und vertrieben; radikale Elemente unter ihnen greifen zu den Waffen. Folge sind Bürgerkrieg und politische Umwälzungen weit über den Ostkongo hinaus. So begannen die beiden Kriege von 1996/97 und zwischen 1998 und 2003 mit ihren etwa drei Millionen Toten – und heute droht die dritte Auflage dieses Szenarios.

In Reaktion auf das Massaker an 163 Banyamulenge-Flüchtlingen aus dem Kongo im Nachbarland Burundi vor zwei Wochen setzte Kongos größte Rebellenbewegung, die von ruandischstämmigen Politikern geführte RCD (Kongolesische Sammlung für Demokratie), am 23. August ihre Mitarbeit in Kongos Allparteienregierung aus. Wieder einmal bündeln sich im Schicksal der „Banyarwanda“ des Kongo, der „Leute aus Ruanda“, die Probleme einer Region, die seit dem Völkermord an Ruandas Tutsi 1994 nicht zur Ruhe gekommen ist.

In den Augen vieler anderer Bewohner des Kongo sind die Banyamulenge und die anderen ruandischsprachigen Bevölkerungen der Kivuprovinzen Ruander, also Fremde. Der Schlüssel zum Frieden, so folgern radikale Nationalisten, liege in der Vertreibung oder Ermordung dieser Fremden. Diese Haltung war stets der Schlüssel zum Krieg.

Ruandischsprachige Bewohner gibt es seit Jahrhunderten im heutigen Ostkongo. So stammen die Banyamulenge von Migranten ab, die im 18. Jahrhundert aus Ruanda nach Südwesten in die Region um Mulenge zogen und von dort im 20. Jahrhundert in das nahe Hochland von Minembwe, wo sie bis heute als Viehzüchter leben. Lange vor der Kolonialzeit gab es eine gemächliche und friedliche Völkerwanderung aus den Hochlandregionen, wo Ruanda und Burundi sowie Teile Ugandas liegen, in die tiefer gelegenen und dünner besiedelten Gebiete weiter westlich. Dadurch erschlossen sich neue Wirtschaftskontakte. Schon vor der Kolonialzeit war der Distrikt Rutshuru im Ostkongo mehrheitlich ruandisch besiedelt. Die belgische Kolonialherrschaft im 20. Jahrhundert schuf neue Fakten. Kivu mit seinem fruchtbaren Hochland sollte Aushängeschild einer modernen Landwirtschaft werden, ein Gegensatz zum hungergeplagten und rückständigen Ruanda nebenan. Ab den 20er-Jahren ließen sich im Distrikt Masisi westlich von Goma weiße Siedler nieder, für deren Plantagen Arbeiter aus Ruanda herangeschafft wurden. Zugleich entstand an der fruchtbaren Vulkankette an der kongolesisch-ruandischen Grenze der Virunga-Nationalpark – zu Lasten der lokalen Bevölkerung. Das wurde von vielen Bewohnern Kivus nie akzeptiert, und so waren auch die umgesiedelten Ruander nicht willkommen. Die Banyarwanda stellen noch heute knapp die Hälfte der drei Millionen Einwohner von Nordkivu. Aber ihr Status wurde nie geklärt.

Während der Kolonialzeit ordneten die Belgier im Ostkongo die Afrikaner nach „Stamm“. Sie waren keine Bürger, sondern rechtlose Subjekte mit Häuptlingen – „chefs coutumiers“ oder traditionelle Könige. Doch die Gleichsetzung von Ethnie und „Häuptling“ wurde der Realität nie gerecht. Manche Könige des Kongo geboten über mehrere Völker, manche ethnische Gruppen waren auf zahlreiche traditionelle Chefs verteilt. Was die Banyarwanda angeht, erkannten die Belgier lediglich in Rutshuru eigene ruandische Häuptlinge an. Die Landarbeiter in Masisi hingegen wurden der Ethnie der Bahunde unterstellt, und auch die Banyamulenge bekamen keine eigene Verwaltung.

Diese beiden Gruppen waren damit benachteiligt, als Kongo 1960 unabhängig wurde. Die lokale Verwaltung in Kivu basierte danach auf den traditionellen Chefs: Sie verwalteten zum Beispiel das Landnutzungsrecht und favorisierten ihre eigene Ethnie. Erst 1972 erhielten erstmals sämtliche Einwanderer aus Ruanda und Burundi die Staatsbürgerschaft, sofern sie schon vor 1950 im Kongo lebten. Aber 1981 wurde das wieder rückgängig gemacht und die in den 70er-Jahren erteilten Urkunden wieder eingezogen.

Kurzfristig unproblematischer, aber langfristig explosiver gestaltete sich die wirtschaftliche Situation der Banyarwanda. Zwischen 1967 und 1973 verstaatlichte Diktator Mobutu sämtlichen Landbesitz. Das von traditionellen Königen verwaltete Land blieb in deren Verfügungsgewalt, aber die einst weißen Farmen in Masisi konnten nunmehr vom Staat an Private verkauft werden. Die Nutznießer davon waren zumeist Banyarwanda, denn von anderem Landerwerb waren sie ausgeschlossen. So bildete sich in Kivu eine reiche ruandischstämmige Oberschicht.

Daraus entstand der Konflikt zwischen „Einheimischen“ und „Ruandern“, der bis heute Ostkongo zerreißt. Dabei wurde von „einheimischer“ Seite die gesamte ruandischsprachige Bevölkerung – egal ob alteingesessen, während der Kolonialzeit dazugekommen, oder nach der Unabhängigkeit aus Ruanda geflohen; egal ob „Hutu“-Bauern oder „Tutsi“-Viehzüchter – pauschal als „Ruander“ angesehen, also Ausländer. Aber die Banyarwanda in Kivu sehen sich selbst als Kongolesen.

Vollends zum Bürgerkrieg eskalierten diese Spannungen in den 90er-Jahren, als die Mobutu-Staatsmacht zerfiel und lokale Machthaber Milizen gründeten. Organisierte Vertreibungen ruandischstämmiger Hutu-Bauern begannen im Bahunde-Gebiet um Walikale im Frühjahr 1993 und dehnten sich rasch auf ganz Nordkivu aus. Die Bilanz: über 10.000 Tote. Im Sommer 1994 folgte die Revanche der Hutu: In Ruanda war das herrschende Hutu-Regime nach dem Völkermord an Ruandas Tutsi gestürzt worden, floh nach Zaire und ließ sich samt seiner Armee in Flüchtlingslagern in Kivu nieder. Nun halfen die neuen Hutu-Soldaten aus Ruanda den zairischen Hutu.

Und sie brachten ihre Völkermordideologie nach Zaire: Es kam zur organisierten Vertreibung der zairischen Tutsi, vor allem in Masisi. 70.000 Menschen wurden getötet. Ab 1995 nahmen sich radikale Kräfte in Südkivu daran ein Beispiel und predigten die Jagd auf die dortigen Tutsi – die Banyamulenge.

Ruandas Hutu-Extremisten halten die Hutu für die einzig wahren Ruander, weshalb sie alle Tutsi ausrotten wollen. In den Kongo übertragen, sind unter dieser Sichtweise die kongolesischen Tutsi doppelt unerwünscht. Heute trifft Diskriminierung gegen Banyarwanda im Kongo vor allem die Tutsi. Die kongolesischen Hutu hingegen sind von ihren Gegnern aus politischen Gründen inzwischen wohlgelitten, manche von ihnen gehören zu den radikalsten Wortführern gegen Ruanda.

Das liegt an den Umwälzungen der letzten Jahre. Als im Herbst 1996 Laurent-Désiré Kabila seinen Krieg zum Sturz Mobutus startete, standen an der Spitze seiner Armee die zuvor verjagten Tutsi aus Kivu. Als Kabila 1998 mit Ruanda brach, gründeten die Tutsi-Soldaten im Ostkongo die bis heute in Goma herrschende RCD-Rebellenarmee.

Fünf Jahre lang kämpfte die RCD mit Hilfe Ruandas gegen Kabila, der sich seinerseits Hutu-Extremisten als Verbündete nahm. Die Bilder von gelynchten Tutsi in Kinshasa gingen im Sommer 1998 um die Welt. Diese Erfahrungen prägen bis heute die Tutsi-Soldaten in Kivu. Zum Selbstschutz wollen sie unter eigener Führung in ihrer Heimat unter Waffen bleiben. Umgekehrt halten ihre Gegner „die Tutsi“ für Separatisten. Wegen dieses gegenseitigen Misstrauens ist es nun zum Bruch gekommen.

Eine Lösung der Problematik der Banyarwanda im Kongo scheint heute ferner denn je. So ist die Nationalitätenfrage zwar auf dem Papier geregelt: Im Friedensvertrag von Dezember 2002 wurde vereinbart, dass jeder Bewohner des Kongo Staatsbürger ist, wenn seine Ethnie Teil des Kongo zum Zeitpunkt der Unabhängigkeit 1960 bildete. Damit sind die Banyarwanda Kongolesen. Aber ein entsprechendes Gesetz ist derzeit im Übergangsparlament blockiert.

Eine Versöhnung in Kivu selbst ist nach den Verwüstungen der letzten Jahre schwer. In Nordkivu hat fast die gesamte Bevölkerung mindestens einmal Vertreibung erlitten. In Südkivu haben wechselnde Bevölkerungsteile jahrelang Einkesselung und Terrorisierung durch ethnische Milizen erlebt.

In Südkivu, wo im Rahmen des Friedensprozesses jetzt andere politische Gruppen regieren, flammen bis heute immer wieder Konflikte auf. Die Banyamulenge, die am vorletzten Wochenende in Burundi ermordet wurden, waren erst im Juni aus Südkivu geflohen. In Nordkivu ist weiter die RCD an der Macht und hat politische Ämter kongolesischen Hutu-Politikern aus dem Distrikt Rutshuru übertragen. Doch andere Gruppen behaupten gerne, Ruanda ziehe dort noch heute die Fäden.

Der Vorwurf, jemand agiere als Marionette Ruandas, ist in Kivu weit verbreitet. Dabei ist gerade Ruanda für die Banyarwanda des Kongo ein Problem. Sie sehen sich ja als Kongolesen. Ruanda wiederum sieht sich gerne als Schutzmacht sämtlicher ruandischsprachiger Bevölkerungen: Ruanda ist eines der kleinsten Länder Afrikas, aber die 30 Millionen Ruander in Afrika wären eine der größten Nationen des Kontinents.

Gerade bei den Banyamulenge ist inzwischen das Gefühl weit verbreitet, als Kanonenfutter missbraucht worden zu sein. 2001/02 kam es unter Südkivus Banyamulenge zu einer massiven, blutig niedergeschlagenen Revolte gegen Ruanda und die RCD. Ruandas letzte große Militäroperation im Kongo vor dem Rückzug im Herbst 2002 richtete sich gegen Mitglieder der eigenen Ethnie.

Letztendlich sind Kongos Ruander auf sich allein gestellt. Und gerade das fördert das Gefühl der Ausweglosigkeit.