Gefilmte Familienchroniken

Die Produktionsfirma Vitascope hat sich nicht auf Starporträts, sondern auf Lebensgeschichten von Menschen spezialisiert. Das macht die Filme nicht weniger kunstvoll und zugleich zur Oral History

VON LENNART LABERENZ

Walter Klein lacht über sein ganzes Gesicht. Er sitzt neben dem Grabstein seiner Frau und lacht. Er freut sich für sie, weil sie nun „im Himmel“ ist und auch auf das „baldige Wiedersehen“ mit ihr. Klein, Jahrgang 1921, lacht, und auch Joachim Mühleisen ist zufrieden. Mühleisen hat den alten Mann neben den Grabstein platziert, ihn gefilmt und über sein Leben ausgefragt. Ein kleines schönes Porträt ist dabei herausgekommen, das der Sohn von Walter Klein bei Mühleisen in Auftrag gegeben hat.

Die Berliner Firma Vitascope hat sich nicht auf Starporträts, sondern auf alltägliche Lebensgeschichten spezialisiert. Zwei Tage wird gedreht, professionell geschnitten, Musik unterlegt und das Endprodukt auf DVD oder VHS kopiert. Rund 800 Euro kostet so ein Film, dessen Gestaltung ganz durch die Erzählung der Porträtierten rhythmisiert wird. Erzählen sie viel, dann nehmen die Anekdoten einen größeren Raum ein, hält die Erzählung inne, lassen die Autoren Bilder sprechen, besuchen Erinnerungsorte. „In der Regel bricht das Eis schnell“, sagt Mühleisen, „ältere Menschen vergessen die Kamera rasch und erzählen unbefangen.“

Vitascope sind Mühleisen und sein Partner Sascha Quednau. Die Geschäftsidee, erzählt Quednau, wurde geboren, nachdem Mühleisen seine Großmutter porträtierte. Zurück blieb ein feinfühlig komponiertes Dokument: „Oma Elsbeths Aufbruch in die Ewigkeit“. Seither bewahren sie in filmischen Biografien die Erzählungen der älteren Generation für Nachgeborene – Stücke gefilmter Familienchronik.

Zur Vorbereitung führen Quednau und Mühleisen Gespräche mit Kindern und Enkeln. „Wir wollen uns orientieren können und ein Gefühl für entscheidende Momente der Person bekommen“, sagt Mühleisen. Dass die filmischen Biografien fast therapeutischen Wert haben, fügt er noch hinzu. Der Großteil der Lebenserzählungen der um 1920 Geborenen ist durch Extreme geprägt. Krieg und Vertreibung spielen oft die wichtigste Rolle, das sind „einschneidende“ Eindrücke, hinzu kommen die Fronterlebnisse, Gräuelbilder, Gefangenschaft oder Flucht und Überleben. Kontingenz als Erklärungsmuster wird unbedingt ausgeschlossen – Religion gibt Zerrissenem einen Sinn, Heimat führt zurück zum Ausgang. Davon erzählen sie.

In die kleinstädtische Heimat kehrte mancher nach Krieg und Gefangenschaft zurück, der erzählgewaltige Walter Klein etwa schlug eine aussichtsreiche Selbstständigkeit in England aus. Auf dem Weg zur Vertragsunterzeichnung „hat der Heiland zu mir gesprochen“, lacht er vergnügt. Die Kunst sei, so Mühleisen, die Geschichten der Menschen, „die nicht berühmt“ sind und deren Leben nicht öffentlich ausgeleuchtet werden, in ihrem Kontext zu erfassen. So werden die Filme zu einem Stück Oral History, erzählter Geschichte aus der Perspektive des Jedermann.

Wichtig ist Quednau und Mühleisen, keine Verklärung aufkommen zu lassen, sie dirigieren die Erzählenden sanft, fragen nach deren Rolle oder Schuldempfindungen. Allerdings sind die Erinnerungen in Sepia getaucht, scharfe Kanten verwischen.

So wie bei Alfred Rohmann: An einem späten Julitag tastet der sich durch sein 83 Jahre währendes Leben, er erzählt langsam, blickt vor sich auf den Boden, faltet die Hände zusammen. Direkt unter seiner Gesichtshaut müssen sich die Bilder des 20. Jahrhunderts abspielen, sie rollen in Wellen über Kinn und Wangen, fügen sich auf der Stirn zu einem engstrichigen Muster. Mühleisen filmt ihn frontal, behält den schweren Kopf des alten Mannes im Bildausschnitt. Der erzählt von einer Kindheit am Rande Berlins, aus der Stadt drangen wirre Nachrichten. Nachrichten, in denen Kommunisten und Schießereien gewöhnlich gemeinsam auftraten. Rohmann berichtet vom Krieg, der sich langsam über die Begeisterung des Jugendlichen legte und sie erstickte. Stalinorgeln, Flucht und Neuaufbau. „Da wurde nicht gefragt, da wurde angefasst“, sagt Rohmann leise. Der Bildausschnitt verharrt auf dem verstummenden Gesicht. Plötzlich blitzt Rohmann auf, „beim Steineschleppen habe ich meine Liebe gefunden!“ Mühleisen schwenkt die Kamera langsam durch den sommerlichen Garten. Nach zwei Stunden Arbeit gibt es Kaffee und Kuchen. Alfred Rohmanns Liebe sitzt schon am Tisch.