Alltag trifft auf Ausnahmezustand

Karsten Thielker begleitete in den 90er-Jahren als Kriegsfotograf die Kämpfe in Bosnien oder Ruanda. Dafür gewann er sogar den Pulitzer-Preis.Heute fängt er Berliner Alltagsszenen in Schwarz-Weiß-Aufnahmen ein. Eine Ausstellung stellt nun die beiden Arbeitsbereiche nebeneinander

VON TIM ACKERMANN

Auch in unserer fernsehgeilen Zeit ist die Gier der Zeitungen nach unbewegten Bildern aus Krisengebieten ungebrochen. Über das Leben der Menschen, die diese Fotos machen, wird kaum etwas bekannt – es sei denn, sie werden als Geisel genommen. Fotografie-Stars wie Capa oder Cartier-Bresson scheinen mittlerweile durch ein Heer anonymer Bildjäger ersetzt. Sind Fotojournalisten nur noch die Summe ihrer Bilder?

Die derzeitige Ausstellung von Karsten Thielker verneint diese These. Thielker – der sich selbst als „No-Name-Fotograf“ bezeichnet, obwohl er 1995 den renommierten Pulitzer-Preis gewann – war bis 1996 für die Agentur AP in Kriegsgebieten tätig. Aufnahmen aus dieser Zeit machen jedoch nur ein Drittel der Ausstellung aus, der Rest sind persönliche, fast intime Bilder: Fotos aus seinem Berliner Lebensumfeld, die sich mit den Schreckenszenen aus Sarajevo und Ruanda mischen. Alltag trifft auf Ausnahmezustand.

„Brüche – meine (Um-)Wege im Fotojournalismus“ heißt die Schau. Der Titel gibt die Richtung vor: Thielkers Bilder lassen sich nur im Kontext seiner Biografie interpretieren. So spürt man beim Betrachten förmlich, wie der Enddreißiger durch die Kriegsfotografie aufgerieben wurde. „Die Wiederholung der Ereignisse hat mich müde gemacht“, sagt er. „Irgendwann hatte ich das Gefühl, nur noch Klischeebilder zu produzieren.“

Das hing auch mit Kontrollmechanismen zusammen: Als der Krieg in Sarajevo immer dreckiger wurde, habe AP Bilder bestellt, die den US-Geschmack vom „sauberen Krieg“ treffen, sagt Thielker. Manchmal konnte der Fotograf sich durchsetzen: Ein Bild mit drei blutigen, bleichgesichtigen Kinderleichen, das in der Ausstellung zu sehen ist, wurde veröffentlicht. Bisweilen ist Thielker selbst an seine Grenzen gestoßen: Die 200 halb verwesten Leichen, die in einer Kirche in Ruanda lagen, hat er nicht fotografiert. Und 1996, nach einem lebensgefährlichen Autounfall in Kroatien, beschloss er endgültig aufzuhören.

Die Fotodokumente aus seiner AP-Zeit sind auch für den Betrachter eine Art Katharsis, nach der die neuesten Projekte befreiend wirken. Seit Thielker 1997 endgültig nach Berlin zog, radelt er durch die Stadt und sammelt Motive für seine Serie „Berlin Daily“. Die Resultate sind teils ironisch-humorvoll, teils idyllisch. Thielker betätigt sich als Chronist seiner Zeit, aber da er ausschließlich in Schwarz-Weiß fotografiert, haben seine Aufnahmen einen starken Retro-Flair. Das erzeugt einerseits einen merkwürdigen nostalgischen Blick auf das „Jetzt“, andererseits aber auch den irritierenden Eindruck, dass sich die Menschen in Deutschland seit den 50er-Jahren kaum verändert haben. Gewisse Posen sind wohl einfach zeitlos.

Vor allem zeigt die „Berlin Daily“-Serie mehr noch als die Agentur-Bilder die besondere Qualität des Fotografen. Denn wie jeder herausragende Fotojournalist hat Thielker ein Gespür für das, was Henri Cartier-Bresson den moment décisif nannte: Die Fähigkeit im richtigen Moment auf den Auslöser zu drücken und gerade dadurch eine komplexe Geschichte zu erzählen.

Eine der schönsten Aufnahmen in der Ausstellung stammt aus der Nacht der Bundestagswahl 2002. Auf einer Großbildleinwand ist das Gesicht des Siegers zu sehen. Davor steht auf einem regnerischen Platz eine einsame, verlassene Gestalt. Die zunehmende Distanz zwischen Politiker und Volk, die unserer Zeit zugeschrieben wird, findet hier ihr metaphorisches Bild.

„Brüche“. Bis 17.9., täglich 10 bis 20 Uhr, Landesvertretung Rheinland-Pfalz, In den Ministergärten 6, Eintritt frei