Den „inneren Tastsinn“ entwickeln

„Gefährliches Umfeld“ für den Fötus? Statt sich die Schwangerschaft als eine ungestörte „Zeit des Wunderns“ zu gönnen, begeben sich viele Frauen immer früher und häufiger in umfangreiche Kontroll-Untersuchungen

97 Prozent aller Kinder, die auf die Welt kommen, sind gesund

In China heißen Schwangere „Frauen, die Glück in sich tragen“, in Deutschland scheinen sie schon längst nicht mehr „guter Hoffnung“ zu sein. Die Mitarbeiterinnen der Bremer Beratungsstelle zur vorgeburtlichen Diagnostik Cara haben festgestellt: Viele Frauen schweigen so lange über ihre Schwangerschaft, bis ihnen erste Untersuchungsergebnisse bescheinigen, dass „alles normal“ ist, sagt Gaby Frech.

Klingt nicht nach „Glück in sich tragen“. Und auch nicht danach, sich eine „Zeit des Wunderns“ zu nehmen, wie es Hebammen Schwangere empfehlen. Heute scheint Schwangerschaft vor allem eins zu sein: angstbesetzt. Die Beraterinnen von Cara setzten sich jetzt im Rahmen der bundesweiten Kampagne „Bitte nicht stören!“ dafür ein, Frauen einen selbstbestimmten Umgang mit ihrer Schwangerschaft nahe zu bringen. Sie wollen die Frauen dazu ermutigen, sich selbst als die Expertinnen für ihre Schwangerschaft zu sehen und einen „inneren Tastsinn“ wieder zu entwickeln. Ängsten könnte nicht nur mit medizinischen Untersuchungen begegnet werden, sondern auch mit Gesprächen in der Partnerschaft und im FreundInnenkreis.

Wirklich erstaunen kann die große Verunsicherung nicht: Durchläuft eine werdende Mutter das vollständige medizinische Vorsorgeprogramm, „kommt sie locker auf 140 Untersuchungen“. So hat es die Bremer Gynäkologin Margret Heider errechnet. Bei einem einzigen Arzttermin würden schon mal bis zu zehn Untersuchungen stattfinden, Fruchtwasseruntersuchungen nicht mitgerechnet. Der Mutterpass fördere die Unsicherheit, sagte die Frauenärztin bei der Auftaktveranstaltung zur Kampagne. Da sei von „Risiken“ und „Gefahren“ die Rede, die es abzuwenden gelte, ergänzte Heider.

Rein rechtlich muss keine einzige dieser Untersuchungen stattfinden. Die Ärztin räumte aber ein, dass es immer schwieriger würde, nicht die Maschinerie von Ultraschall, Blutproben und Abstrichen in Gang zu setzen. Verpflichtet seien die MedizinerInnen zu umfassender Aufklärung: Die werdenden Eltern müssten vor dem Ultraschall wissen, was solche Aufnahmen ans Tageslicht befördern können, nämlich eine eventuelle Abweichung vom „normalen“ Schwangerschaftsverlauf. Sie müssten vor der Untersuchung selbst abwägen können, ob sie diese überhaupt wollen, sagte Heider. Was bleibe, sei die Schwierigkeit festzulegen, wo die Grenze zwischen „normal“ und „Abweichung“ verlaufe, gab sie zu bedenken. Ob ein „normaler“ Befund tatsächlich Sicherheit gebe, sei dahin gestellt.

Wie unsicher Schwangere sind, zeigt auch Heiders Beobachtung, dass immer häufiger Frauen schon dann zu ihr in die Praxis kämen „wenn der Schwangerschaftstest positiv war. Ich weiß dann gar nicht, was die von mir wollen“, sagt sie. Die Pathologisierung Schwangerer bestätigt die Ethnologin Margrit Kaufmann: Sie würden zunehmend als „gefährliches Umfeld, als Mängelwesen“ betrachtet. Cara-Beraterin Frech ergänzte, dass mittlerweile 70 bis 80 Prozent aller Schwangerschaften als „Risikoschwangerschaften“ gelten würden, was nicht erstaunlich sei: Je mehr die Medizin sehen könne, desto mehr Risiken finde sie auch. Trostreich bleibt: 97 Prozent aller Kinder, die auf die Welt kommen, sind gesund.

Für ein entspanntes Schwangersein hat Cara im Rahmen der „Bitte nicht stören!“-Kampagne einen „Verwöhn-Badetag“ organisiert. Der Tag ist Schwangeren und ihren Freundinnen vorbehalten. Gedacht ist er für Frauen, die Kontakt zu anderen Schwangeren suchen, ihren Bauch auch mal anders, als als einen Untersuchungsgegenstand für Ultraschall wahrnehmen wollen oder einfach in Ruhe baden wollen.

Ulrike Bendrat

Fragen? Cara-Infotelefon: ☎ 59 11 54 am Do., 25.9., 10–13 Uhr; Verwöhn-Badetag für Schwangere: Sa., 27.9., 15–17.30 Uhr, Vitalbad, Kurt-Schumacher-Allee 5, Eintritt: sechs Euro.