Deutsche, rückt die Büsten raus!

Wenn Jugendliche ihre Liebe zu Juri Gagarin entdecken: Ein Vortrag im Zeiss-Großplanetarium über das Lächeln des ersten sowjetischen Stars, den „Tag der russischen Kosmonautik“ und die erfüllte Mission eines Briefmarken sammelnden Vaters

von NATALIA HANTKE

Über die Chance, einen Vortrag im Zeiss-Großplanetarium in Prenzlauer Berg halten zu dürfen, freute ich mich sehr. Ich war zur Eröffnung der Ausstellung „Flug zum Himmel“ des russischen Malers Andrej Rudjew eingeladen. Endlich ließ sich damit eine Mission erfüllen, die mir einst mein Vater mit auf den Lebensweg gegen hatte. Zu meinem 12. Geburtstag hatte ich unerwartet ein Briefmarkenalbum geschenkt bekommen, mit dem ich nichts anfangen konnte: Meine Vorliebe für Systematik war noch unterentwickelt. Das Album enthielt aber eine Markenkollektion zum Thema Kosmos, die meinen Vater sofort begeisterte.

Fortan sammelte er chronologisch alle sowjetischen Briefmarken mit dem Schwerpunkt Raumfahrt. Meine Aufgabe an Wochenenden war es, anhand der Neuzugänge die Namen aller Kosmonauten, die sich gerade im All befanden, auswendig zu lernen. Die Briefmarkensammlung wurde immer größer, ich auch.

1991 kam ich nach Deutschland, und die sowjetische Raumfahrt geriet in eine schwere Krise. Trotzdem gab mein Vater die Hoffnung nicht auf, dass ich eines Tages doch noch etwas für die ruhmreiche Kosmonautik tun würde. Dieser Tag war also gekommen – ich stand am Rednerpult und begann:

„Seit einiger Zeit arbeite ich in der Leserbriefredaktion der russischsprachigen Berliner Zeitung Evrasia direkt. Der Job macht mir trotzdem Spaß, weil die Leser manchmal für Überraschungen gut sind. Vor einiger Zeit erreichte mich folgender Brief:

‚Liebe Redaktion! Vor kurzem habe ich im ZDF eine Dokumentation über den russischen Feiertag der Kosmonautik im Wandel der Zeiten gesehen und musste mich dabei doch sehr wundern, dass ich schon seit vierzehn Jahren auf dieser Erde lebe, aber noch nie etwas über diesen Feiertag der alten Heimat und erst recht noch nichts über die russischen Kosmonauten, insbesondere über den ersten – Juri Gagarin – gehört habe. Wie konnte ich bloß meine Zeit einem Dieter Bohlen widmen, wenn wir so einen Juri Gagarin haben?! Zu meiner Person kann ich nur sagen, dass ich aus einem großen sibirischen Dorf stamme. Dort waren wir Deutsche. Seit zehn Jahren lebt meine Familie in einem kleinem brandenburgischen Dorf. Hier nennt man uns Russen. Ich habe nichts dagegen, auch wenn das manchmal kompliziert wird. In Sibirien bin ich ja eine russische Deutsche und hier eine deutsche Russin. Aber wie gesagt, ich habe mich schon daran gewöhnt. Nur wenn man mich hier »Russin« nennt, möchte ich bitte schön auch gern etwas über die russische Kultur erfahren und ebenso über die russische Kosmonautik. Bitte schmeißen Sie meinen Brief nicht weg, und schreiben Sie einen Artikel über Juri Gagarin, am besten mit Fotos. Er sieht sehr hübsch aus. Mit deutsch-russischen Grüßen. Helena Müller‘.

Der Brief rührte mich. Es ging darin nicht wie so oft um die Pickel-, Mundgeruch-, Beziehungs- oder Sexprobleme unserer jungen Leser. Es ging um Gagarin und um die russische Forschung im All. Ich setzte mich sofort hin und schrieb einen Beitrag für die Rubrik ‚Von uns an euch‘:

‚Liebe Helena, liebe andere Leser und Leserinnen, ein Vergleich zwischen Dieter Bohlen und Juri Gagarin ist tatsächlich unmöglich, da D. Bohlen in der letzten Zeit so sehr nachgelassen hat, dass nicht mal mehr Zehnjährige noch etwas mit ihm anfangen können. Juri Gagarin war und ist aber der sowjetische Superstar. Ein Sexidol unseres Landes. Er lebt tief in den sinnlichen Erinnerungen unserer Mütter, Omas und einiger empfindsamer Väter. Er ist unser Held. Dazu muss man natürlich wissen, dass er ein echter Senkrechtstarter war. Innerhalb einer Stunde und 48 Minuten wurde Gagarin weltberühmt. Genau so lange dauerte nämlich der erste bemannte Flug in den Kosmos. Der 12. April 1961 trennte fortan die Menschheit in Erdbewohner und Kosmonauten und bestätigte endgültig die Rolle der Menschen (insbesondere der russischen) als ‚Gebieter und Herren der Natur und der Wolken‘. Dieser Tag brachte der Sowjetunion den Neid aller Völker (insbesondere der Amerikaner. Diese haben dann in Hollywood eine Mondlandung mit eigenen Kosmonauten, die sie als Astronauten bezeichneten, um eine Verwechslung mit den Russen zu verhindern, nachgestellt. Sie wollten damit die ganze Welt von ihrer Überlegenheit überzeugen). Und dieser Tag brachte Gagarin die stolze Bewunderung aller russischen Kinder, die ab da nur noch Raketen malten und nur Gagarin liebten. Er war ein echter Star, und deswegen gab es viele Legenden um seine Person. Man sagte dieses, man sagte jenes … man sagte auch, dass Gagarin nicht als erster Kosmonaut fliegen durfte. Ein anderer sollte den Ruhm ernten, nämlich Herman Titow, weil er noch schöner und vor allem leichter als Gagarin war. Die Wissenschaftler befürchteten, wegen Gagarins Übergewicht einige wichtige Kontrollgeräte aus dem Raumschiff entfernen zu müssen. Daran sieht man, wie wenig die damaligen Ingenieure von Werbung und Imagemaking verstanden. Nur der Hauptkonstrukteur Korolow wusste, dass nicht das Gewicht aus einem Mann einen Helden macht, sondern das Lächeln. Und genau dieses charmante, bezaubernde Lächeln hatte der einfache Dorfjunge Jurij Gagarin. Korolow ging in das Raumschiff und riss kurzerhand die erstbesten Geräte heraus, weil er wusste, dass man nur mit so einem hinreißenden Lächeln, die Weltraumforschung voranbringen konnte.

Nun sieh, dass er Recht hatte. Die Fotos des lächelnden Juri Gagarin (der damals erst 27 Jahre alt war) überschwemmten den ganzen Planeten und erzielten einen unglaublichen ideologischen Effekt. Es war die Stunde unseres Stars. Gagarin wurde als Abgeordneter gewählt, ihm zu Ehren wurden Denkmäler errichtet, überall wurden die Straßen nach ihm benannt – dort wo es keine Leninstraßen gab, gab es unbedingt eine Gagarinstraße sowie, auf jeden Fall, eine Gagarinbüste. Und sein berühmter Ausspruch beim Start der Rakete ist seitdem der beliebteste Trinkspruch aller russischen Männer: ‚Ab geht’s!‘

Das Ganze passierte nicht nur wegen seiner Heldentat. Juri Gagarin kam tragisch ums Leben – als er 34 Jahre alt war. Er ließ uns nicht nur sein berühmtes Lächeln auf den Fotos zurück, sondern auch das Geheimnis seines Todes: Hatten ihn irgendwelche Neider umgebracht oder war er mit seinem Flugzeug in Turbulenzen geraten? Ewiger Ruhm unserem russischen Jungen Juri Gagarin, dem ersten Kosmonauten, der mit seinem anziehenden Lächeln die Welt verzauberte! Lasst uns unsere Gläser mit stillem Wasser erheben und wenigstens einmal im Jahr, am Tag der russischen Kosmonautik, dem 12. April, darauf anstoßen. Ab geht’s! Eure Leserbriefredaktion.‘“

Standing Ovations – (im Foyer des Planetariums gab es keine Stühle), einige hatten feuchte Augen. Zu mir eilte der Direktor der Treptower Archenhold-Sternwarte und bedankte sich für meinen unkonventionellen Vortrag. In seinem Schlusswort rief er dann das ganze Deutschland auf, alle in den Wendewirren geplünderten Gagarin-Büsten wieder rauszurücken und zur Erinnerung an diesen großen ersten Kosmonauten in seinem Planetarium abzugeben. Sodann eröffnete er mit Gagarins Spruch „Ab geht’s“ das Büfett.

Die Autobiografie von Jurij Gagarin „Der Weg in den Kosmos“ wurde übrigens kürzlich neu aufgelegt – vom Elbe-Dnjepr-Verlag in Klitzschen; ISBN-Bestellnummer: 3-9333395-19-4