Er trennt Religion und Politik

Großajatollah Ali al-Sistani vertritt einen traditionellen Islam. Sein Anliegen ist eine gewählte verfassunggebende Versammlung. Bewaffneten Widerstand lehnt er ab

Sein Wort gilt in weiten Teilen des Irak als Gesetz. Großajatollah Ali al-Sistani wird von der Mehrheit der 15 Millionen Schiiten als mudschtahid oder marja al-taqlid angesehen, als hochrangiger Rechtsgelehrter des Islam. Laut schiitischem Glauben muss sich jeder Muslim einen solchen mudschtahid als Vorbild aussuchen und Nachahmung üben. In der Hausa, der höchsten religiösen Autorität, ist al-Sistani der angesehenste Geistliche. An ihm kommt im Irak niemand vorbei, nicht die USA, nicht die Interimsregierung und auch nicht Muktada al-Sadr.

Anders als dieser oder die Revolutionäre im benachbarten Iran steht Sistani für die quietistische Tradition des Schiismus, die für eine Trennung zwischen Religion und Politik eintritt. Bewaffneten Widerstand gegen die Besatzungstruppen lehnt er bislang ab. Doch in den letzten Monaten mischte Sistani sich zunehmend in die politische Debatte über die künftige Gestaltung des Landes ein und sprach auch schon mal ein Machtwort. So bestand er darauf, dass eine endgültige Verfassung nur von einem gewählten Gremium geschrieben werden könne. Und er forderte freie Wahlen für die im Juni eingesetzte Interimsregierung, wenngleich er sich letzten Endes der Haltung der UNO anschloss, die Wahlen zu diesem Zeitpunkt für nicht durchführbar hielt. Tausende seiner Anhänger zogen im Januar mit der Forderung nach freien Wahlen auf die Straßen.

Sistani wurde 1930 in der iranischen Stadt Maschad geboren und siedelte 1952 in den Irak über. Er entstammt einer Familie bekannter Religionsgelehrter. Seine Fatwas, Gutachten, die den Gläubigen Anweisungen erteilen, spiegeln eine sehr traditionelle Sichtweise wider. So hat er sich beispielsweise für die Trennung von Frauen und Männern in der Öffentlichkeit ausgesprochen, Musik zu Unterhaltungszwecken verboten und verfügt, dass Frauen ihre Haare verhüllen. Andererseits tritt er dafür ein, dass sich die Religion an die Bedingungen von Zeit und Ort anpasst, was für eine gewisse Flexibilität spricht.

Öffentliche Auftritte oder Interviews sind seine Sache nicht. Wer etwas von ihm will, muss ihn in seinem bescheidenen Haus in Nadschaf aufsuchen, wo er mit seiner Frau und seinen beiden Söhnen lebt. Amerikaner haben allerdings keinen Zutritt. Anfang August lehnte er es ab, sich von einem US-Militärhubschrauber zu einer Herzbehandlung nach London ausfliegen zu lassen. Er zog den unsicheren Weg mit dem Auto nach Bagdad vor. B.S.