Halt! Ihr Visum, bitte!

Die Kaliningrader sind arm. Sie sind in hohem Maß vom Handel – und vom Schmuggel – abhängig

aus Kaliningrad ANJA MAIER

Das ist nun schon der dritte Geldumschlag, den der Busfahrer den Grenzsoldaten reicht. Am Grenzübergang Nida von Litauen nach Kaliningrad dehnt sich die Zeit. Seit über zwei Stunden warten die dreißig deutschen Journalisten auf ihre Einreise in die russische Exklave. Die Pässe sind kontrolliert, das ist Gepäck gefilzt, die Sonne über der Kurischen Nehrung brennt auf die Reisenden. Im Schatten sitzen zwei bewaffnete Soldaten. Sie rauchen, sie haben Zeit.

Der Bus ist das einzige abzufertigende Fahrzeug hier. Gerade das ist wohl der Grund, warum die russischen Grenzer mehr und noch mehr Bakschisch erwarten. Denn ihr Geschäft läuft schlecht. Seit dem 1. Juli gilt das neue Visaabkommen zwischen der Europäischen Union und Russland. Der im November 2002 nach zähem Ringen gefundene Kompromiss hat weit reichende Folgen für die Menschen in dieser Region im nordöstlichen Europa, vor allem für die Kaliningrader, auch für die Grenzbeamten unter ihnen.

Denn Kaliningrad wird nun von den EU-Beitrittsländern Polen und Litauen umschlossen. Und die bilden die neue Außengrenze der EU. Das Regelwerk der Gemeinschaft schreibt vor, dass die Kandidaten sechs Monate vor ihrem Beitritt das Schengen-Abkommen anwenden: Die schrittweise Abschaffung der Kontrollen an den Binnengrenzen der Union sowie die Sicherung der gemeinsamen Außengrenze müssen gewährleistet werden.

Ein Blick auf die Landkarte macht deutlich: Um aus der von Polen, Litauen und der Ostsee umgebenen Exklave Kaliningrad ins russische Mutterland zu gelangen, sind entweder lange Schiffsreisen, teure Flüge oder zu Lande die Überquerung von drei Staatsgrenzen in Kauf zu nehmen. Für Kaliningrader, die zu Land nach Moskau oder Sankt Petersburg reisen wollen, bedeutet dies, dass sie ein Visum brauchen. Und das haben nur wenige.

Dass das Visaabkommen zwischen der EU und Russland am 1. Juli in Kraft tritt, hat in Kaliningrad zwar jeder gewusst. So richtig geglaubt hat jedoch wohl kaum einer, dass ab diesem Datum für den Grenzübertritt tatsächlich ein Visum nötig sein würde. Sonst hätten sich die Kaliningrader wohl vor dem 1. Juli um Reisedokumente bemüht. Doch Litauen hat sich an seine Verpflichtung gegenüber der EU strikt gehalten. Und so ist es nicht verwunderlich, dass an den Grenzübergängen kaum noch etwas los ist – und den Angehörigen der russischen Grenzpolizei das einträgliche Nebengeschäft mit Schmiergeldern verloren gegangen ist. So muss das deutsche Busunternehmen nun eben doppelt und dreifach bestechen.

Nicht nur die Grenzbeamten sind plötzlich von einem einträglichen Geschäft abgeschnitten. Die knapp eine Million Einwohner des Kaliningrader Gebiets leben im Vergleich zu ihren beiden Nachbarländern unter ärmlichsten Bedingungen und sind in hohem Maße vom grenzüberschreitenden Handel abhängig. Bis zum 1. Juli gab es jährlich 8 Millionen Grenzübertritte nach Polen und Litauen. 80 bis 90 Prozent der Ausreisen dienten dem Handel – und Schmuggel – und damit dem Lebensunterhalt. Hinzu kommen die aus der Sowjetzeit herrührenden privaten und familiären Beziehungen zu Menschen in den baltischen Republiken und dem russischen Kernland.

Ein Drittel der Kaliningrader lebt unter der Armutsgrenze, die offizielle Arbeitslosigkeit beträgt 4 Prozent, die verdeckte 50. Kaliningrad hat die höchste Aidsrate in Europa. Eine Mafia aus Staatsbediensteten und gewöhnlichen Kriminellen hat große Teile des täglichen Lebens fest im Griff. Krankheit, Drogen und Alkohol sind beim Gang durch die Straßen der Gebietshauptstadt – von ausgesuchter realsozialistischer Hässlichkeit und dominiert von der Ruine des dem Verfall anheim gegebenen Allunionspalastes – allgegenwärtig. In den verwilderten Parks liegen Betrunkene zwischen Müll, Rentner betteln vor den Geschäften, die Substanz der Straßen und Wohnhäuser – nach 1945 auf den Trümmern des alten Königsberg errichtet – ist erbärmlich. Vor den Hotels der „Sehnsuchts-Touristen“ genannten deutschen Ostpreußen-Reisenden stehen nach Einbruch der Dämmerung minderjährige Prostituierte, in Sichtweite fahren ihre Zuhälter im BMW ihre Runden.

Was aus der heruntergekommenen Region werden soll, ist vollkommen offen. Bernd-Uwe Zöllter, Chef der deutschen Wirtschaftvertretung in Kaliningrad, ist überzeugt: „Kaliningrad bleibt auf jeden Fall Russland zugehörig. Zwar gab es bis vor kurzem eine Partei, die für Kaliningrad die Autonomie anstrebt. Aber kaum jemand hat ihr bei der letzten Wahl seine Stimme gegeben.“ Woran das liegen könnte, versucht der Jurastudent Aleksej Mutin zu erklären. Die russische Bevölkerung sehe ja „jeden Tag, wie unnachgiebig Moskau auf Autonomiebestrebungen“ reagiere. Er meint Tschetschenien und wagt nicht einmal im Vieraugengespräch, den Namen der abtrünnigen Republik auszusprechen.

Das Mutterland scheint gleichwohl keine langfristige Strategie zu haben, wie mit der Exklave innerhalb des EU-Gebiets zu verfahren sei. Zöllter sieht nur eine Möglichkeit: „Die wirtschaftliche Isolation muss aufgehoben werden.“ Denn für Moskau stellt sich das Gebiet als Fass ohne Boden dar: 7 Prozent aller russischen Deviseneinnahmen gehen heute nach Kaliningrad. Damit werden kommunale, soziale und infrastrukturelle Aufgaben bezahlt. Anfallende Rechnungen werden hier schon länger nur noch in harter Währung beglichen. Ein riesiger Posten, der zu großen Teilen in den Kanälen der Mafia verschwindet. „Langfristig kann sich Moskau das nicht leisten“, meint Zöllter.

Viktor Romanowski hingegen, Chef des Departements für Auslandsbeziehungen Kaliningrads und bis vor kurzem Vizegouverneur, sieht für die Region eine Chance in der EU-Osterweiterung. Dass die Bürger derzeit nur unter schwierigen Bedingungen ins Kernland reisen können, ficht ihn nicht an: „Sogar für Westberlin ist doch damals eine Lösung gefunden worden. Ein Kaliningrader soll keine oder kaum Hindernisse haben, nach Moskau zu reisen. So ist es mit der EU verabredet. Und da Litauen die Visapflicht eingeführt hat, ist es auch für die Lösung aller damit zusammen hängenden Probleme zuständig.“

Seine forsche Haltung nützt den vielen Menschen, die seit dem 1. Juli täglich vor dem litauischen Konsulat in Kaliningrad nach Visa anstehen, wenig. Die Behörde ist mit dem Ansturm völlig überfordert. Laut Schengen-Abkommen ist sie verpflichtet, die Anträge binnen 24 Stunden zu bearbeiten. Ihre Kapazitäten sind mit jährlich 150.000 ausgestellten Visa bei einer erwarteten Nachfrage von bis zu einer Million zu gering. Diese hohe Zahl – bei knapp einer Million Kaliningradern – ergibt sich aus dem Umstand, dass die Reisenden mehrfach die Grenze überschreiten, um die erlaubte Menge zollfreier Waren, etwa Alkohol und Zigaretten, nach Kaliningrad zu bringen und sie dort zu verkaufen.

Die litauische Regierung ist nun vorerst dazu übergegangen, in Reisezügen Konsulatsmitarbeiter mitfahren zu lassen, die zwischen der Gebietshauptstadt und der Grenze kostenlose Visa erteilen sollen. Eine aufwändige und provisorische Lösung, die für Unmut in den Zügen und für Verspätungen sorgt. Ein Dreijahresvisum kostet umgerechnet 5 Dollar, ist also sogar bei einem Durchschnittsgehalt von 100 Dollar im Monat erschwinglich. Doch wegen der Bearbeitungsengpässe im litauischen Konsulat verfügt kaum jemand über dieses Reisedokument.

Geplant ist langfristig, dass Zugreisende bereits beim Fahrkartenkauf ihre Personalien angeben und vom Schalterbeamten ihr Visum erteilt bekommen. Da die Software für diese Art der Abfertigung noch nicht installiert ist, steigen viele Kaliningrader auf gut Glück in den Zug gen Moskau, in der Hoffnung, Litauen werde die Visaregeln schon nicht so streng auslegen. Ein Trugschluss. „Jeden Tag werden dutzende Menschen aus den Zügen geholt. Auch Kindergruppen wurden schon wieder zurückgeschickt“, berichtet Bernd-Uwe Zöllter. „Das belastet die Atmosphäre zwischen Russen und Litauern zusätzlich.“

Ein großes Problem sieht er darin, dass sehr viele Kaliningrader bis heute keinen Pass besitzen. Die EU hat bis zum 31. Dezember 2004 zwar eine Übergangsfrist eingeräumt. Doch auch dann wird dieses Problem nicht gelöst sein. Denn viele Kaliningrader sind Militärangehörige – ein Teil von ihnen Geheimnisträger. Und die bekommen von den russischen Behörden – und zusätzlich bis zu sechs Jahre nach ihrem Ausscheiden aus dem Militärdienst – keinen Pass ausgestellt. Ihnen bleibt nur der teure Luftweg. Für den einfachen Flug Kaliningrad–Moskau oder Kaliningrad–Petersburg wirbt die Fluggesellschaft Aeroflot überall in der Gebietshauptstadt. 990 Rubel kostet die Passage, das sind 33 Dollar oder 29 Euro. Für einen Rentner, der monatlich 50 Dollar bezieht und seine Kinder in Russland besuchen will, ein unerschwinglicher Preis.

In anderthalb Wochen, am 1. Oktober, schließt sich für die Kaliningrader ein weiteres Tor zum Westen. Dann tritt auch in Polen das Schengen-Abkommen in Kraft. Die Menschen werden vollends abgeschnitten sein – sowohl von ihren EU-Nachbarn und noch stärker vom Mutterland. Polen versucht sich logistisch so gut wie möglich auf den Ansturm auf sein Konsulat vorzubereiten.

Bis es soweit ist, florieren Schmuggel und Grenzhandel in ungekanntem Ausmaß. Am Grenzübergang Mamonowo stauen sich die Waren und Menschen, Warteplätze in den Autoschlangen werden auf dem Schwarzmarkt gehandelt.

Die deutsche Journalistengruppe hat sich eingedenk ihrer langen Wartezeit bei der Einreise mit Wasser und Proviant eingedeckt: es wird Stunden dauern, um nach Polen zu kommen. Doch das Wunder geschieht. Wie versprochen, hat Viktor Romanowski von der Gebietsregierung den Bus bei den Behörden angekündigt. Mit scharfen Worten und Gesten werden die Autos der anderen Wartenden zur Seite gewunken. Keiner protestiert. Binnen zehn Minuten ist der Bus auf polnischem Gebiet. So war es und so ist es in Russland: Beziehungen sind alles. Das Schengen-Abkommen wird diese Tradition beenden.